Interview
"Schmerz lässt sich ohne Psychologie nicht behandeln"
Die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist sehr komplex. Doch ob es dafür einen Facharzt für Schmerzmedizin braucht, ist umstritten, wie Professor Thomas Tölle, Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, im Interview mit der "Ärzte Zeitung" deutlich macht.
Veröffentlicht:Prof. Thomas Tölle
Aktuelle Position: Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft.
Ausbildung: Tölle ist Neurologe und Psychologe
Karriere: Tölle ist in verschiedenen Funktionen als Arzt und Dozent an der neurologischen Klinik der Technischen Universität München tätig. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist er Sprecher des Deutschen Forschungsverbundes Neuropathischer Schmerz (DFNS).
Ärzte Zeitung: Welche Richtung hat das 1. Nationale Schmerzforum aufgezeigt?
Prof. Thomas Tölle: Man muss auf der Klaviatur der Möglichkeiten, wie man die beste Behandlung gegen den Schmerz organisieren muss, alle Register ziehen können.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Strukturen da sind: Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, der sozialmedizinische Dienst. Denn die Patienten mit chronischen Schmerzen haben alle komplexe Probleme.
Die Hauptrichtung ist also, dass wir alle Erkenntnisse, die wir über die moderne Schmerztherapie besitzen, auch nutzen, um die Patienten zur richtigen Versorgung zu steuern.
Dafür müssen wir differenzierte Versorgungssysteme vorhalten. Das kann einmal eine sehr einfache Versorgung sein, im anderen Fall aber auch eine hochkomplexe, im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie.
Das gilt sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Sektor.
Ärzte Zeitung: Brauchen wir den Facharzt für Schmerzmedizin?
Prof. Thomas Tölle: Das ist eine Frage, die im Forum immer wieder angeklungen ist. Einige Vertreter sind der Meinung, dass es nur damit geht.
Andere sind der Meinung, dass das Schmerzfach vor allen Dingen im Querschnitt ausgeübt werden muss, weil es auch in jeder Disziplin vorkommt und deswegen der auf Schmerzen fokussierte Spezialist alleine nicht die Lösung sein kann, sondern die Kooperation aller Fachrichtung untereinander.
Die Deutsche Schmerzgesellschaft vertritt die Auffassung, dass es eine gestaffelte Struktur von Schmerzmedizin geben sollte: Vom Facharzt mit der Fachkunde Schmerz über den Spezialisten in spezialisierten Zentren bis hin zu interdisziplinären Schmerzkliniken.
Danach muss man sehen, ob in den Regionen, auf dem Land, noch Lücken klaffen. Ob dort zum Beispiel ein Facharzt nötig ist, der alle Kompetenzen auf sich vereinigt, die man an anderer Stelle auch von Kollegen einholen kann.
Ärzte Zeitung: KBV-Chef Andreas Gassen hat im Forum die Auffassung vertreten, nicht zu vergessen, dass die Ursachen von Schmerzen auch kausal angegangen werden könnten, sprich operativ. Sie haben dezidiert widersprochen. Warum?
Prof. Thomas Tölle: Ich halte die Sicht von Herrn Gassen für anachronistisch. Ich frage mich, warum wir trotz der vorgeblich guten Versorgung mit rein kurativer Medizin in die Lage gekommen sind, ein solches Forum abhalten zu müssen, bei dem wir über bis zu 15 Millionen Schmerzkranke in Deutschland sprechen, die nicht gut versorgt sind.
Wenn Funktionäre die Ansicht vertreten, dass man nur etwas mehr kurativ vorgehen müsse, um das Schmerzproblem in den Griff zu bekommen, frage ich mich, woher der Wandel im Verständnis kommen soll.
Es ist richtig, im Verlauf einer Therapie immer wieder die Frage zu stellen, ob der Punkt gekommen ist, wo Kausalität möglich ist.
Aber das zum Prinzip zu erheben, das man nur befolgen müsse, um das Problem des Schmerzes besser in den Griff zu bekommen, halte ich für kontraproduktiv.
Ärzte Zeitung: Die Regierung hat in einer Antwort auf eine Anfrage der SPD-Fraktion vorgerechnet, dass Schmerzen volkswirtschaftliche Kosten von 38 Milliarden Euro verursachen. Schafft das von Ihnen vorgeschlagene multidisziplinäre, flächendeckende und integrative Versorgungsmodell auch finanzielle Spielräume?
Prof. Thomas Tölle: Kommen wir noch einmal zurück auf die rein kurative Vorgehensweise und die Steigerungsraten bei Bandscheibenoperationen und anderen Eingriffen.
Dagegen stehen Untersuchungen des BVSD (Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten d. Rd.), die belegen, dass die multimodale Therapie ökonomisch ist und im Vergleich zu anderen Therapien Geld spart.
Auch die Barmer GEK hat darauf verwiesen, dass das ein probater Weg ist, um Geld zu sparen.
Wir haben auf diesem Forum verstanden, dass Schmerzen in einer bestimmten Phase überhaupt nicht mehr ohne sozialmedizinischen Hintergrund, ohne psychologisches Verständnis zu behandeln sind.
Es wurde beklagt, dass in der Medizin zu wenig gesprochen und zu schnell geschnitten wird.
Wir brauchen die multidisziplinäre, flächendeckende, integrierte Versorgung, wie sie auch die Bundesärztekammer und der Ärztetag gefordert haben.
Die psychosozialen Komponenten des Schmerzes lassen sich nicht wegoperieren.
Ärzte Zeitung: Ist das die Botschaft, die vom 1. Nationalen Schmerzforum in Richtung Politik geht?
Prof. Thomas Tölle: Die Botschaft ist: Alle die angesprochen wurden, waren interessiert und haben die Gelegenheit genutzt, bei diesem Forum mit ihrer ersten Garnitur dabei zu sein.
Das spricht dafür, dass angekommen ist, dass man sich bei diesem Thema nicht ausschließen darf. Die Patientenvertreter haben von den Politikern engagiert gefordert, tätig zu werden.
Dann habe ich verstanden, dass schnellere Lösungen gefragt sind. Da war vor allem der GBA interessiert, nicht auf den einen großen Wurf zu warten, sondern Hilfe schneller umzusetzen über die ambulante spezialfachärztliche Versorgung und das geplante DMP Rückenschmerz.
Das Interview führte Anno Fricke