Pflege in Not
Sozialverbände fordern die Bürgerversicherung
Die Soziale Pflegeversicherung kann die Kosten der stationären Pflege nicht mehr decken. Die Eigenanteile der Heimbewohner gehen durch die Decke. Sozialverbände rufen deshalb nach schnellen Reformen.
Veröffentlicht:Berlin. „Extremen Handlungsdruck“ bei der Reform der Pflegeversicherung haben Vertreter von Gewerkschaften und Sozialverbänden ausgemacht. Der Mehrbedarf an Personal, um aktuell eine „gute Pflege“ zu gewährleisten, werde auf etwa 200.000 Pflegekräfte, beziffert, sagte Sylvia Bühler, verdi-Bundesvorstandsmitglied, am Montag in Berlin. Bühler bezog sich auf ein vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenes, noch unveröffentlichtes Gutachten zur Personalbemessung in der Pflege.
Die Gutachter um den Bremer Professor Heinz Rothgang sollen ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Personalbemessung „nach qualitativen und quantitativen Maßstäben“ bis Juni 2020 (Paragraf 113c SGB XI) entwickeln und erproben. Rothgang hat sich dahingehend geäußert, dass er nicht mit einer schnellen Umsetzung der Ergebnisse rechne.
Um die Bewohner von Pflegeheimen von den steigenden Eigenanteilen an den Pflegekosten zu entlasten, schlagen verdi, die Diakonie Deutschland und die Arbeiterwohlfahrt die Einführung einer Bürgerpflegeversicherung vor.
Finanzierungsmix gefordert
„Wir brauchen die Vollversicherung für den pflegerischen Bedarf“, sagte Maria Lohheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Dazu bedürfe es eines Finanzierungsmixes aus höheren Beitragssätzen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, Beiträgen auf Erträgen aus Kapital und Mieten, einer Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung und Steuermitteln.
Aktuell deckt die Pflegeversicherung die Kosten für die stationäre Pflege nicht mehr ab. Vor allem in den neuen Ländern sind die reinen Pflegekosten im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) kommt für Mecklenburg-Vorpommern auf einen Anstieg der Eigenanteile von 2018 auf 2019 von 271 Euro auf 520 Euro im Monat (plus 78 Prozent). In Sachsen-Anhalt legte der Eigenanteil im Untersuchungszeitraum von 271 auf 476 Euro (76 Prozent) zu, in Thüringen von 214 auf 355 Euro (66 Prozent).
Vergleichsweise moderat fielen dagegen die Steigerungen im Westen aus. In Berlin zum Beispiel stiegen die Eigenanteile im Schnitt um 8,8 Prozent auf 915 Euro im Monat. Bundesweit mussten im laufenden Jahr 693 Euro (plus 17 Prozent) aus der eigenen Tasche dazu gezahlt werden. Den höchsten Eigenbeitrag leisten Pflegebedürftige in Baden-Württemberg mit 953 Euro im Monat.
Obendrauf kommen die Kosten für Verpflegung und Unterkunft. Auch eine Beteiligung an den Investitionskosten wird den Heimbewohnern berechnet. Das Ende der Fahnenstange ist nach Einschätzung der IW-Gutachter nicht erreicht. Mehr Personal und ein bundesweit vergleichbares Lohnniveau, wie von der Politik gewollt, würden demnach vor allem in den neuen Ländern weitere, „spürbare Erhöhungen der Eigenanteile“ nach sich ziehen, heißt es in der IW-Analyse.
Tariflöhne lassen Eigenanteile weiter steigen
„Wir wollen den Eigenanteil wieder auf null Euro bringen“, sagte Sylvia Bühler am Montag. Den Arbeitnehmervertretern sei bewusst, dass Tariflöhne die Eigenanteile zum Abheben brächten. Gleichwohl wolle man möglichst noch in diesem Jahr die Tarifverhandlungen zwischen verdi und der eigens gegründeten „Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche“ (BVAP) abschließen.
„Vom Pflegelöhneverbesserungsgesetz erhoffen wir uns bessere Rahmenbedingungen“, sagte Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt. Soziale Berufe bräuchten eine höhere Wertschätzung. Es könne nicht sein, dass Arbeit an Maschinen höher bezahlt werde als die Arbeit mit Menschen.Der Verband der Leitungskräfte der Alten- und Behindertenhilfe (DVLAB) hat am Montag eine Aufstockung der Pflegebelegschaften analog zum Pflege-Personalstärkungsgesetz gefordert. Darüber sollen bis zu 13 000 zusätzliche Pflegekräfte für die medizinische Behandlungspflege in Altenheimen aus der gesetzlichen Krankenversicherung werden. Das belaste die Eigenanteile der betroffenen nicht, sagte Bundesvorsitzender Peter Dürrmann. Wichtig sei, die Pflegekräfte zur Rückkehr zu bewegen, die aufgrund der Arbeitsbedingungen aus dem Beruf ausgeschieden seien.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat das Thema Pflegefinanzierung bereits für das kommende Jahr auf die Tagesordnung gesetzt. In der Koalition wird bereits über die ersten Schritte diskutiert. „Wir müssen die Eigenanteile deckeln, die von den Pflegebedürftigen selbst zu tragen sind“, sagte die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Bärbel Bas, am Montag. Das sei ein wichtiger Schritt Richtung Vollversicherung in der Pflege.
Linke spricht von „tickender Zeitbombe“
Auch in der Opposition sind die Pflegekosten Thema: Die Eigenanteile in der stationären Pflege seien eine „tickende Zeitbombe“, meldete sich die Sprecherin der Linksfraktion für Pflegepolitik, Pia Zimmermann, zu Wort. In Niedersachsen habe sich der Eigenanteil von 2001 bis 2015 mehr als verzwölffacht. Die Bundesregerung schaue tatenlos zu, weil sich Minister Jens Spahn und die CDU/CSU wirksamen Schritten entgegenstellten, sagte Zimmermann.
Eine umfassende Reform der Pflegefinanzierung sei „unausweichlich und längst überfällig“, sagte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Kordula Schulz-Asche. Minister Spahn müsse zur Kenntnis nehmen, dass seine vermeintliche Turbo-Politik inzwischen als finanzieller Tsunami bei den pflegebedürftigen Menschen ankomme. der Bundesgesundheitsminister müsse endlich gegen die explodierenden Eigenanteile in der stationären Pflege aktiv werden.