Hintergrund
Teltower Kreis: Künftig kaum mehr Pflege in der Familie
Viele Pflegebedürftige werden von Partnern oder Kindern versorgt. Auf Dauer wird sich das Modell nicht halten, wie auf einem Symposium des Teltower Kreises zu hören war.
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Die professionelle Pflege soll mehr an Attraktivität und Akteptanz gewinnen.
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Die kommenden 20 Jahre werden die Gesellschaft in Sachen Pflege vor völlig neue Herausforderungen stellen. Um die Zukunft der Pflege zu sichern, sind viele neue Ansätze nötig.
Davon zeigte sich Jürgen Heese, Leiter der Stabsstelle Unternehmenspolitik der AOK Nordost, überzeugt. 70 Prozent der Pflegebedürftigen würden heute zu Hause gepflegt.
Doch die Entwicklung gehe dahin, dass die Pflege in den Familien und in Freundeskreisen immer weniger gewährleistet sei. "Da bedarf es innovativer Ideen", so Heese, der Mitglied des Teltower Kreises ist.
Symposium "Lebensqualität in der Pflege"
Das Gremium aus Gesundheitsfachleuten verschiedener Couleur hatte zum Symposium "Lebensqualität in der Pflege" nach Potsdam eingeladen.
Die Experten fordern auch einen anderen Blick auf die konkreten Pflegesituationen und mehr direkte Unterstützung für pflegende Angehörige.
"Gerade die pflegenden Angehörigen sehen sich in ihrer Situation oft allein gelassen und sind häufiger kränker als andere Menschen", so Rainer Holldorf, Sprecher der Teltower Kreises.
Umdenken gefordert
Gefordert sei ein gesellschaftlicher Konsens, wie mit Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen verantwortlich umgegangen werden soll und mehr gesellschaftliche Akzeptanz für Pflegeleistungen.
Dieses Umdenken forderte Holldorf auch mit Blick auf den stagnierenden Nachwuchs in den Pflegeberufen bei wachsendem Bedarf ein.
Pflege in der Selbstverwaltung mit Stimmrecht einbinden
Damit Pflegeberufe an Attraktivität gewinnen, muss die professionelle Pflege mehr Verantwortung für ihr Tätigkeitsfeld erhalten. Darin stimmt Marie-Luise Müller, Ehrenpräsidentin des Deutschen Pflegerates, mit dem Pflegewissenschaftler Professor Johann Behrens von der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg überein.
Kaum ein Beruf sei derart fremdbestimmt, sagte Müller. Sie kritisierte unter anderem, dass die Pflege an Entscheidungen über ihr Berufsfeld nicht beteiligt sei. Wer Pflege künftig attraktiver gestalten will, "muss Pflege in der Selbstverwaltung aktiv und mit Stimmrecht einbinden", forderte Müller.
Sie sprach sich dafür aus, dass im Rahmen der nun vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ermöglichten Modellversuche für mehr Aufgabenübertragung an die Pflege auch so genannte Pflegepraxen erprobt werden, in denen hochspezialisierte Pflegekräfte beispielsweise Diabetiker betreuen. "Für multimorbide Patienten braucht man vor allem hervorragende pflegetherapeutische Betreuung", sagte Müller.
"Scheindiskussion" der Ärzte
Der Pflegewissenschaftler Behrens bewertet den GBA-Beschluss als sehr zurückhaltend. "Die Richtlinie führt nichts ein, was es in der Praxis nicht schon gibt", sagte er. Die von der Ärzteschaft initiierte Debatte um Delegation und Substitution bezeichnete er als "Scheindiskussion".
Er vertrat die Auffassung, "dass ambulant wie stationär die Attraktivität des Pflegeberufs steigt, wenn die Menschen das, was sie faktisch verantworten, auch tatsächlich rechtlich verantworten dürfen".
Pflege muss ihre Grenzen kennen
In diesem Zusammenhang sprach er sich für das ursprüngliche Gemeindeschwestermodell aus, in dem Pflegekräfte eigenständig bestimmte Aufgaben wie zum Beispiel im Wundmanagement übernehmen.
Eine Einschränkung machte Behrens allerdings: "Die Selbstständigkeit der Pflege setzt voraus, dass auch die Pflege genau weiß, wo ihre Grenzen sind."
Mehr Ehrenamtliche in die Pflege
Neben einer Akademisierung des Pflegeberufs hält Behrens auch die vermehrte Einbindung von Ehrenamtlichen in die Pflege für sinnvoll. Er berichtete aus seinen konkreten Erfahrungen in Halle/Saale von einem regelrechten "Überangebot an ehrenamtlichen Engagement".
Dass die freiwilligen Helfer in einigen Haushalten keine Aufgaben finden, liegt nach seinen Angaben aber nicht daran, dass sie nicht qualifiziert sind - oft seien es Witwen, die ihre Männer jahrelang gepflegt hätten, so Behrens.
Das Hindernis sieht er vielmehr auf Seiten der professionell Pflegenden. Sie hätten das Gefühl, sie müssten den schönen Teil der Pflege an die freiwilligen Helfer abgeben - ein weiterer Grund, an der Attraktivität des Berufsbildes zu arbeiten.