Gesundheitszentrum Geko in Neukölln
Wie Gesundheitsversorgung und Sozialarbeit im Kiez funktioniert
Das Geko in Berlin-Neukölln bietet nicht nur Menschen in einem Stadtteil mit vielen Herausforderungen einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung und weiteren Angeboten – sondern auch den Mitarbeitern einen bewusst anderen Weg der Zusammenarbeit.
Veröffentlicht:Berlin. Das Volleyballnetz ist gespannt, der Ball aufgepumpt und Ali Kantouri spielbereit. „Es kommen bald ein paar Jungen“, sagt der Sportfachmann und Karate-Trainer. Er steht zusammen mit Rebekka Schlang am Kinder- und Jugendzentrum Lessinghöhe in der Rollbergsiedlung Berlin-Neukölln.
Es ist Ramadan, das wird den Andrang auf dem kleinen, improvisierten Platz bremsen. Und auf dem Fußballplatz nebenan kicken schon sechs Jungen und Mädchen, die Kantouri nicht stören will. Er weiß, dass früher oder später ein paar Jugendliche zum Volleyball kommen. Weil sie ihn kennen, weil es immer so ist.
Kantouri ist seit Jahren auf dem Kiez in Neukölln unterwegs. Der sportbegeisterte Mann versteht es, seine Leidenschaft für Bewegung zu übertragen. „Und er ist tolerant, hat für vieles Verständnis. Das finden die Jugendlichen gut, sie vertrauen ihm“, sagt Praktikantin Schlang. Kantouri ist beim gemeinnützigen Verein Gesundheitskollektiv Berlin e.V. angestellt.
Sportangebote bahnen den Kontakt zu Familien
Das „Geko“ oder zumindest eines der vielfältigen Angebote kennen hier fast alle. Kantouris Volleyball ist Teil davon. Ein anderer ist das Training von Sporttrainer João Lukoki und Gesundheitsberaterin Gesine Knauer auf einem Bolzplatz in der Nähe der Sonnenallee. Sie alle wollen Kinder und Jugendliche in Bewegung bringen. Ein zweiter positiver Aspekt des gemeinsamen Sports: Er schafft eine Vertrauensgrundlage und dient dazu, weitere Jugendliche anzusprechen. Über die Sportler wiederum bekommt das Geko teilweise Kontakt zu den Familien, die dann den Weg ins Zentrum finden.
Das Geko ist ein Gesundheitszentrum in dem Berliner Stadtteil, mit dem die meisten Menschen wohl zuerst den Begriff „Brennpunktkiez“ verbinden. Er ist mit ähnlichen Vorstellungen – und Vorurteilen – verbunden wie Billstedt in Hamburg oder Chorweiler in Köln. Oft ist die Gesundheitsversorgung in solchen Stadtteilen schlechter als im Rest der Stadt.
Wertschätzende Arbeit, flache Hierarchien, Eigenverantwortung – so läuft es im Geko
Im Geko arbeiten alle Berufsgruppen auf Augenhöhe zusammen.
Geko wurde vom Innovationsfonds als Modellprojekt ausgewählt
Wie man sie verbessern könnte, treibt unter anderem Patricia Hänel um. Die approbierte Ärztin ist im Geko für Politik, Strategie und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Hänel hat mitgewirkt, dass das Geko als Modellprojekt vom Innovationsfonds ausgewählt wurde – die 39-monatige Phase startet am 1. August.
Hänel hat auch kürzlich den Springer Medizin Charity Award entgegengenommen. Bekommen hat ihn das Geko, weil es neue Wege einer umfassenden Versorgung geht, bei dem die Lebensbedingungen der Menschen einbezogen werden. „Das hat uns sehr gefreut und solche Auszeichnungen helfen uns“, sagt Hänel. Aber: Sie und ihre Mitstreiter wollen erreichen, dass dieses Versorgungsangebot, das monatlich rund 3.000 Menschen nutzen, unabhängig von solchen Preisen bestehen kann. Deshalb setzen sie große Hoffnungen in den Innovationsfonds.
Ganz anders als beim bisherigen Hausarzt
Wenn es nach Mona Ermler ginge, hätte das Geko noch viel mehr Unterstützung verdient. Sie kommt regelmäßig in das Geko-Café, um dort mit anderen Menschen an einem Kreativworkshop teilzunehmen. „Ich habe mit meiner Erkrankung in anderen Einrichtungen keine guten Erfahrungen gesammelt. Hier fühle ich mich ernst genommen. Gesundheit ist ja nicht nur das große Blutbild. Hier nimmt man sich auch für komplexe Probleme Zeit“, sagt die junge Frau.
Neben ihr sitzt Margot Kessler, die nur wenige Meter entfernt vom Geko-Standort in der Rollbergsiedlung wohnt. Sie wurde durch ein Willkommensfest des Geko auf das Zentrum aufmerksam und war sofort begeistert. „Mit meinem Hausarzt war ich nicht zufrieden. Hier war es ganz anders: Frau Doktor stand am Tresen, alle hatten ihre Familien mitgebracht und alles wuselte durcheinander“, berichtet die ältere Dame im besten berlinerisch. Sie holte sich einen Termin in der allgemeinmedizinischen Praxis bei Ärztin Johanna Henatsch und ist seitdem nicht nur dort Stammgast. Im Kreativworkshop tauscht sie sich aus, pflegt Kontakte mit Menschen, die sie vorher nicht kannte.
Was Energy-Drinks mit Bauchschmerzen zu tun haben können
Was hat ein Kreativ-Workshop mit Gesundheitsversorgung zu tun? Es findet ein Austausch statt, der den Teilnehmern guttut. Yvonne Kiefel vom Geko lässt den Teilnehmern freie Hand bei ihren Arbeiten, versteht sich auch nicht als „Leiterin“, sondern eher als „sichere Bank“, die auf jeden Fall da ist. „Wir geben den Raum ohne Verpflichtung. Viele Menschen haben solche Räume, in denen sie andere treffen, nicht“, sagt Kiefel.
Innovative Versorgungsmodelle
Primärversorgungszentren: Pioniere sind enttäuscht über politische Kehrtwende
Für die Jugendlichen beim Volleyball gilt das gerade nicht. Zwei von ihnen sind angespornt von Kantouris Motivationskünsten. Als einer der Jungen wegen Bauchschmerzen aussetzen will, fragt Kantouri, was er gegessen hat. Es entsteht ein Gespräch über Chips und Energy-Drinks. Der Junge winkt nicht genervt ab, wie er es vielleicht bei seinen Eltern getan hätte, sondern hört mit echtem Interesse zu.
Beide Angebote – Sport und Kreativ-Workshop – zeigen den umfassenden Ansatz der Gesundheitsversorgung im Geko: Sie nehmen die Lebensbedingungen der Menschen im Quartier in den Blick: von den Bewegungsangeboten über soziale Kontakte und die Betrachtung des Wohnumfelds und der eigenen Wohnungen bis hin zur psychologischen Beratung. Die haus- und die kinderärztliche Praxis im Geko gehören natürlich auch dazu. Sie sind ein wichtiger von vielen wichtigen Bausteinen.
Austausch mit allen Berufsgruppen
So verstehen es auch die hier tätigen Ärztinnen und Ärzte, egal ob angestellt oder Praxisinhaber. Die hausärztliche Praxis verfügt über zwei und die pädiatrische Praxis über 2 ¾ Kassenarztsitze. Für Pädiater Jonathan Zepp etwa ist die Verbindung und der ständige Austausch mit den anderen Berufsgruppen ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil seiner Arbeit geworden.
Zepp war vorher auf einer Frühgeborenen-Intensivstation tätig und hatte sich gezielt im Geko beworben. „Niederlassung in einer traditionellen Praxis wäre für mich nicht in Frage gekommen“, sagt er.
Das Besondere am Geko ist aus seiner Sicht neben dem umfassenden Versorgungsansatz die Art, wie die Gesundheitsberufe zusammenarbeiten: „Alle anderen Einrichtungen, die ich kenne, sind ärztlich dominiert.“ Wenn er noch einmal woanders arbeiten sollte, ist er sicher, dass er viele Ideen, die hier schon umgesetzt sind, mitnehmen wird.
Stichwort Austausch: Zehn Gruppen treffen sich regelmäßig im Geko. Es gibt rund 100 Einzelberatungen im Monat, wöchentliche Praxisteambesprechungen, alle 14 Tage Fallbesprechungen, zu denen die Praxisteams sich mit Sozialberaterin, psychologischer Beratung, Familienberatung und Gesundheits- und Pflegeberaterin austauschen. Und regelmäßig Treffen beider Praxen mit allen Beraterinnen.
Finanzielle Haftung ist auf mehrere Schultern verteilt
MFA Jo Ladewig ist die dabei von allen gelebte Augenhöhe genauso wichtig wie ihre Eigenverantwortung in der Praxisarbeit: Sie ist zuständig für Hygiene, Bestellungen und weitere Bereiche. „Ich brauche keinen Chef, der mir sagt, wie ich das machen soll“, sagt sie. Wertschätzende Arbeit, flache Hierarchien, Eigenverantwortung: „Das Geko zieht Leute an, die so arbeiten wollen“, sagt Ladewig.
Auch Allgemeinmedizinerin Kirsten Schubert denkt so und handelt danach. Sie war vor rund zehn Jahren eine der Mitgründerinnen des Geko und hat zunächst als angestellte Ärztin mitgearbeitet. Seit 2023 ist sie formal eine der „Praxischefinnen“ in der hausärztlichen Praxis, hat einen Kassenarztsitz erworben. Die damit verbundene finanzielle Verantwortung aber wird geteilt im Geko – über notariell abgesicherte Freistellungserklärungen, die die finanzielle Haftung auf mehrere Schultern im Kollektiv verteilt.
Allen Besuchern wird vermittelt: Es gibt keine falsche Tür
Für ihre Zulassung werden rund 25 Menschen einen Freistellungsanteil in einer Höhe zwischen 500 und 25.000 Euro, je nach eigenen finanziellen Möglichkeiten, erwerben und damit den Kassenarztsitz ermöglichen. Zugleich werden die Einnahmen im Kollektiv möglichst gerecht untereinander aufgeteilt.
„Mit diesem Modell fühle ich mich sicher“, sagt Schubert. Unter anderen Bedingungen selbstständig in der ambulanten Versorgung oder angestellt in einem MVZ arbeiten? Das wäre für sie nicht in Frage gekommen: „Ich wüsste nicht, wo ich ein so multiprofessionelles Arbeiten finden sollte.“
Einigung auf Eckpunkte
Neue Berliner Regierungskoalition will mehr KV-Praxen und erweiterten Notdienst
Ein weiterer Vorzug, den sie woanders auch nicht hätte: In den Geko-Praxen nimmt man sich Zeit für eine umfassende Erst-Anamnese. Die ist aus ihrer Sicht erforderlich, um die Patienten kennenzulernen, ihre Lebensumstände zu erfassen und zu entscheiden, wer aus dem Team wann am besten helfen kann. Dies könnte Sozialberaterin Elisabeth Lange, Psychologin Roja Massoumi, Familienberaterin Kim Quistorff oder Gesundheits- und Pflegeberaterin Eva Weirich sein.
Einzeln, gemeinsam oder in Kombination mit anderen Angeboten des Kollektivs. Wichtig ist: Die Patienten finden alles an diesem Ort mitten in Neukölln auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei. Die 45 Beschäftigten vermitteln allen Besuchern: „There´s no wrong door.“
Die Menschen aus dem Quartier wissen, dass ihnen hier geholfen wird und sie nicht in anderen Einrichtungen neu um Termine bitten müssen. Sie wissen auch, dass sie hier diskriminierungssensible Räume finden und dass bei ihren Gesprächspartnern auch bei Sprachproblemen keine Ungeduld aufkommt. Sie müssen noch nicht einmal mit einem formulierten Anliegen in eine Sprechstunde kommen.
„Soziodemografischer Vergütungszuschlag“ wäre hilfreich
Denn das Café ist als Eingangstor gedacht, in dem Besucher zwanglos mit den Beschäftigten ins Gespräch kommen. Die geschulten Kräfte dort hören zu und machen bei Bedarf Angebote oder vereinbaren Termine – niedrigschwelliger geht es nicht. Noch besser könnte die Arbeit im Geko funktionieren, wenn die Patienten danach durch Peer-Berater begleitet werden. Hänel hofft, dass dies durch die Förderung des Innovationsfonds möglich wird.
Geko
- Gesundheitskollektiv
- Das Geko Neukölln existiert seit 2016.
- 45 Beschäftigte arbeiten im Geko. Dazu gehören unter anderem Ärzte, MFA, Sozialberaterinnen, Psychologinnen, Familientherapeutinnen.
- Besonders wichtig ist den Geko-Mitarbeitern die Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe auf Augenhöhe.
- Das Geko wurde vom Innovationsfonds des G-BA als Modellprojekt ausgewählt.
- 2023 wurde das Geko mit dem Springer Medizin CharityAward ausgezeichnet.
Dennoch bleibt die Frage: Wie trägt sich ein solches umfassendes Angebot finanziell? Das GKV-Honorar, Fördermittel und Spenden halten das Kollektiv bislang über Wasser, aber für eine langfristige Perspektive könnten diese Säulen möglicherweise nicht ausreichen. Große Hoffnungen setzen die Initiatoren in das Innovationsfondsmodell.
Hilfreich wäre aus Sicht Hänels auch, wenn es einen „soziodemografischen Zuschlag“ auf Behandlungen gäbe, der den höheren Aufwand in Bezirken mit Patienten mit Benachteiligungen ausgleicht. Das Geko leistet interprofessionelle Fallbesprechungen, Sprachmittlung und die ausführliche Erstanamnese – alles ohne Vergütung durch Krankenkassen, sondern aufwändig durch andere Fördermittel finanziert.
Suche nach einer nachhaltigen Rechtsform für Stadtteil-Gesundheitszentren
Hilfreich für die Beschäftigten ist die Tatsache, dass viele Menschen nicht nur ihr Angebot nachfragen, sondern auch genauso denken und handeln. Bundesweit gibt es mehrere vergleichbare Projekte. Solidarische Gesundheitszentren finden sich in Hamburg, Freiburg, Dresden, Göttingen, Köln, Jena, Leipzig und seit Jahresbeginn in Lübeck. Sie alle stehen vor vergleichbaren Problemen in der Finanzierung, die durch das Patchworkkonzept aus Verein und Praxen hervorgerufen wird.
Der Dachverband der solidarischen Gesundheitszentren arbeitet derzeit an einer nachhaltigen Rechtsform für Stadtteil-Gesundheitszentren, damit ihr Versorgungsangebot und damit die Arbeitsbedingungen, die sich manche Ärztinnen und Ärzte wünschen, gesichert werden kann.
Steffi Müller, im Berliner Zentrum für die Koordination zuständig, verweist auf Erfahrungen mit vergleichbaren Konzepten in anderen Regionen, etwa in Skandinavien, Indien und in den anglo-amerikanischen Ländern. Wichtig ist ihr, dass sich alle Beteiligten für die Perspektiven der Patienten und der anderen Gesundheitsberufe öffnen und sich nicht auf eigene Belange fokussieren.
Diese Haltung vermitteln auch Kantouri und seine Kollegen bei der Outreach-Arbeit im Kiez, über die monatlich rund 300 Kontakte entstehen. Zum Beispiel beim Volleyball. Kantouri hat Verständnis, dass der Junge mit Bauchschmerzen pausiert. Der Jugendliche denkt darüber nach, ob er etwas an seiner Ernährung ändert. Die nächsten Mitspieler sind auch eingetroffen. Statt in den sozialen Medien treffen sie sich wirklich, freuen sich über den Austausch von Angesicht zu Angesicht und bewegen sich.
Sie alle wissen: Wenn sie ein Problem haben, können sie sich an Ali Kantouri wenden oder einfach das Café im solidarischen Gesundheitszentrum besuchen.