Hintergrund
Wie der Tod eines Jungen zur Geburtsstunde des modernen Rettungsdienstes wurde
Im Mai 1969 wird der achtjährige Björn Steiger von einem Auto angefahren und stirbt – vermutlich an den Folgen eines Schocks. Das tragische Ereignis hat weitreichende Folgen für das Rettungswesen in Deutschland.
Veröffentlicht:Der 3. Mai 1969 ist ein warmer Frühlingstag in Deutschland. Viele Menschen zieht es bereits in die Freibäder. So auch den achtjährigen Björn Steiger aus Winnenden in Baden-Württemberg. Als der Junge fertig ist mit dem Schwimmen, macht er sich mit dem Rad auf den Weg nach Hause.
Beim Überqueren einer Straße wird er von einem Auto angefahren und stürzt zu Boden. Passanten rufen sofort den Rettungswagen. Es dauert eine lange Stunde, bis das Fahrzeug am Unfallort eintrifft. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt Björn Steiger – vermutlich an den Folgen des Schocks, den er bei der Kollision mit dem Pkw erlitten hat.
Wären die Rettungskräfte schneller vor Ort gewesen, hätte der Junge überlebt. Doch eine Wartezeit von 60 Minuten, erfahren seine Eltern Ute und Siegfried Steiger, ist damals „normal“. Das Ehepaar ist fassungslos und beschließt, etwas ändern zu wollen. Zusammen mit Freunden gründen sie im Juli 1969 die „Björn-Steiger-Stiftung“.
Der Rat, das zu tun, kommt von Hilda Heinemann, der Ehefrau des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Hilda Heinemann hat vom Tod Björn Steigers erfahren und sichert den Eltern Unterstützung zu.
Sprechfunkgeräte für Rettungswagen
Am Anfang, erinnert sich Siegfried Steiger, wollten er und seine Frau nur den Rettungsdienst im Landkreis Rems-Murr verbessern. Bei den Recherchen hätten sie aber bemerkt: „Der Zustand des Rettungsdienstes und der Notfallhilfe ist ein bundesweites Problem.“
Abschrecken lassen sich die beiden davon nicht. Schon im August 1969 bietet die Stiftung den Kreisen im „Ländle“ an, ein Drittel der Kosten für Sprechfunkgeräte in Krankenwagen zu übernehmen. Die fehlen in den Fahrzeugen bislang. Im November überreicht Siegfried Steiger dann das erste Gerät an das Deutsche Rote Kreuz. Es ist der Beginn des Sprechfunks im deutschen Krankentransportwesen.
Es folgen weitere Vorstöße. Einer datiert auf den 7. Juli 1971: Auf Betreiben des Bundesverkehrsministeriums werden probeweise 100 Notrufsäulen in mehreren Bundesländern aufgestellt. Das Ganze soll ausgedehnt werden – doch die Länder verweigern die Mitfinanzierung.
Über Spenden finanziert
Weil der Bund daraufhin seine Aktivitäten einstellt, springt die Björn-Steiger-Stiftung ein. Sie übernimmt die Planung, Finanzierung und Installation der Notruf-Apparate. In den 1990er Jahren betreibt die Stiftung bis zu 7000 solcher Anlagen. Finanziert wird das Ganze überwiegend über Spenden.
Die Bevölkerung verfolgt das Engagement der Stiftung wohlwollend. Auch die Medien berichten darüber. Dass die Bundesbürger heute im Notfall wie selbstverständlich die 112 wählen, auch das ist ein Verdienst der Steiger-Stiftung. Den Anfang macht 1969 der damalige Regierungsbezirk Nordwürttemberg.
Der Rollout der Notrufnummer auf die gesamte Republik gelingt zunächst nicht. Daraufhin verklagt die Steiger-Stiftung im Juli 1973 das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland.
Die Klage wird abgewiesen, doch der Ball kommt ins Rollen – auch weil der mediale und öffentliche Druck wächst. Am 20 September 1973 beschließt die Politik, die 112 bundesweit einzuführen.
In den Jahren danach setzt die Stiftung weitere Meilensteine im Rettungswesen: 1974 etwa rollt auf ihre Initiative hin der erste Baby-Notarztwagen auf den Straßen. 1979 folgen die ersten Notarzt-Fahrzeuge.
Auch am Aufbau der Luftrettung ist die Stiftung beteiligt. Sie bildet Schüler zu „Lebensrettern“ aus, entwickelt Handy-Ortungssysteme für den medizinischen Notfall mit und setzt sich auch im Ausland für verbesserte Strukturen im Rettungsdienst ein.
Personalmangel und immer mehr Einsätze
Heute, 50 Jahre nach dem Tod seines Bruders Björn, sieht Stiftungspräsident Pierre-Enric Steiger, das Rettungswesen mit neuen Problemen konfrontiert. Das Ende von Wehrpflicht und Zivildienst etwa habe große Personallücken hinterlassen. Notfallsanitäter zu finden, werde immer schwieriger.
Nachwuchs aber werde gebraucht, zumal die Zahl der Einsätze im Rettungsdienst steige. Seit 2008 hat sie sich laut der KG2-Statistik des Gesundheitsministeriums auf nunmehr fast 52 Millionen mehr als verfünffacht. Steiger: „Um das Rettungswesen wirklich zu verbessern, braucht es eine Revolution.“
Steiger setzt dabei auch auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Mit der geplanten Reform der Notfallversorgung will Spahn die Notrufnummer 112 und die Nummer 116 117 für den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst unter einem Dach zusammenlegen und bearbeiten lassen. „So wie wir es schon lange fordern“, betont Steiger.
Ulrich Schreiner, Geschäftsführer Rettungsdienst bei der Björn-Steiger-Stiftung, hofft, dass Deutschland beim Umbau der Notfallversorgung auch ins Ausland schaut. Schreiner nennt Österreich als Beispiel. Dort hätten Intensivpfleger schon beim Erstkontakt mit dem Anrufer Einblick in die entsprechenden Gesundheitsakten.
„Das führt zu einer besseren Steuerung der Patienten in die richtige Versorgungsebene.“ So müsse es nicht immer gleich der Rettungswagen sein. Schreiner nennt Zahlen: In Österreich würden bei 600 Anrufen 200 Rettungswagen losgeschickt. In Deutschland seien es bei 600 Anrufen 599 Wagen.