Hamburg
Wie manche Kinder unter der Corona-Pandemie leiden
Es wird viele Jahre dauern, bis die gesundheitlichen Schäden, die durch die SARS-CoV-2-Pandemie bei Kindern angerichtet wurden, wieder behoben werden. Davon sind zwei Hamburger Pädiater überzeugt.
Veröffentlicht:Hamburg. Kinderärzte aus den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn und der dort angesiedelte Gesundheitskiosk schlagen Alarm: Kinder in diesen Stadtteilen leiden massiv unter den Folgen der Pandemie. Die Pädiater prophezeien lang anhaltende gesundheitliche Schädigungen der Kinder.
„Die entstandenen gesundheitlichen Schädigungen bei Kindern werden Jahre in Anspruch nehmen“, sagte Pädiaterin Dr. Susanne Epplée im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“. Sie leitet das sozialpädiatrische Zentrum Hamburg-Ost, das viele Patienten aus den sozialen Brennpunkten in den Stadtteilen Horn und Billstedt auf Überweisung von Kinderärzten und Kinderpsychiatern behandelt.
Warteliste wird länger und länger
Die in Billstedt und Horn wohnenden Kinder sind nach Erfahrungen Epplées in hohem Maße auf staatliche Institutionen angewiesen, die ihre Entwicklung begleiten und bei Bedarf unterstützend eingreifen. Derzeit registriert das Zentrum eine Vervielfachung der Patientenzahlen und eine stetig länger werdende Warteliste.
„Ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben wir zum ersten Mal ein Kind gesehen, das sein Gewicht verdoppelt hat“, berichtet Epplée. Das vierjährige Kind hatte innerhalb von sechs Monaten von 19 auf 39 Kilogramm zugelegt und musste in weitergehende Behandlungen überwiesen werden. „Im Essen erleben sie kurze Momente des Glücks, das sie selbst in der Hand haben“, erläutert Epplée den Grund für Gewichtszunahmen vieler Kinder.
Andere Kinder litten unter Angstzuständen und Depressionen, werden aggressiv, bedrohen Eltern und Geschwister mit Messern und müssen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Die Eltern sehen sich aufgrund der eigenen Belastung in der Pandemie nicht in der Lage, Vorbild zu sein oder ihre Kinder in richtige Bahnen zu lenken. „Viele Eltern verfallen in Starre und Passivität. Sie leiden still“, nimmt Epplée wahr.
Zwar tauchen derzeit keine Missbrauchs- oder Misshandlungsfälle mehr im Zentrum auf – dies liegt nach ihrer Überzeugung aber nicht daran, dass es keine mehr gibt, „sondern weil die Kinder außerhalb des elterlichen Hauses nicht mehr gesehen beziehungsweise angesehen werden“. Ein Grund für die alarmierenden Zustände ist aus ihrer Sicht die wegbrechende außerhäusliche Infrastruktur. „Die gesellschaftliche Integration, Bildung und neben dem elterlichen Haus ein Werte stiftender und Orientierung gebender Lebensmittelpunkt sind für diese Kinder unerlässlich“, so Epplée.
Kinder erfinden eigene Sprache
Ähnliche Erfahrungen wie Epplée hat Pädiater Dr. Stephan Schoof dem Gesundheitskiosk in Billstedt berichtet. Schoof beobachtet laut Mitteilung des Gesundheitskiosks zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund, die ihre Kompetenzen beim Spracherwerb verlieren. Ein Grund: Sie werden täglich fünf Stunden oder länger vor dem Fernseher „geparkt“, weil keine Betreuungsmöglichkeiten bestehen.
Schoof berichtet von einem fünfjährigen Zwillingspaar mit Migrationshintergrund, das sich in den vergangenen Monaten eine eigene Sprache jenseits der Mutter- und der deutschen Sprache angewöhnt hat, die nicht einmal von den anderen Familienmitgliedern verstanden wird. „So etwas ist nur schwer einzuholen. Wenn Kinder kurz vor der geplanten Einschulung nicht richtig sprechen können und nicht gelernt haben, wie man einen Stift halten muss, dann haben diese Kinder ein riesiges Problem“, wird Schoof zitiert.
Gesundheitskiosk bietet Hilfe
Für Entlastung versucht der Gesundheitskiosk in den betroffenen Stadtteilen zu sorgen. Im Januar konnten die Pädiater 24 Kinder an die Gesundheitsberater im Gesundheitskiosk überweisen, dies ist das Vierfache der sonst üblichen Überweisungen. Alexander Fischer, Geschäftsführer der Gesundheit für Billstedt/Horn UG, die den Gesundheitskiosk betreibt, verweist auf die hohen Folgekosten, die mit den Therapieverschleppungen verbunden sein werden. Aus seiner Sicht sollten die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen besonders in der Pandemie in den Mittelpunkt gestellt werden.
In Billstedt und Horn leben 110.000 Einwohner, darunter 30.000 Kinder und Jugendliche. Drei Kinderärzte gibt es in den Stadtteilen – nach Ansicht Schoofs zu wenig. 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund, viele kommen aus bildungsfernen Schichten. Schoof betont, dass die Pädiater in solchen Stadtteilen in der Pandemie besonders auf ein funktionierendes Netzwerk angewiesen sind.