Anamnese

Frage nach Gewalterfahrungen gehört dazu

Opfer häuslicher Gewalt sind alles anderer als eine kleine Minderheit in Praxen niedergelassener Ärzte und Klinikambulanzen. Bei der Suche nach einem Ausweg aus der oft traumatischen Situation der Patienten kommt Ärzten eine zentrale Rolle zu.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Gewaltopfer: Viele haben Angst und Scham, sich zu offenbaren.

Gewaltopfer: Viele haben Angst und Scham, sich zu offenbaren.

© Kevin Curtis / SPL

Köln. Ärzte sind häufig die ersten und einzigen Ansprechpartner für Opfer häuslicher Gewalt. Bei der Suche nach einem Ausweg aus der oft traumatischen Situation der Patienten kommt ihnen eine zentrale Rolle zu. Menschen mit Gewalterfahrung sind keine kleine Minderheit in den Praxen niedergelassener Ärzte und den Klinikambulanzen.

"Bei Frauen ist häusliche Gewalt ein größeres Gesundheitsrisiko als Verkehrsunfälle oder Krebserkrankungen", sagt der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) Dr. Theodor Windhorst.

Die ÄKWL hat gemeinsam mit der Ärztekammer Nordrhein (ÄKNo) eine Fachtagung organisiert, mit der sie ihre Mitglieder für das Thema sensibilisieren und ihnen Hilfestellung bieten wollen.

Windhorst verweist auf eine Studie der Europäischen Union, nach der 22 Prozent der befragten Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt durch den eigenen Partner erfahren hatten. Doch das Problem ist nicht auf Frauen beschränkt.

Auch Männer erleben Gewalt in sozialen Beziehungen, Kinder und ältere Menschen werden Opfer von Misshandlungen in ihrem Umfeld. Häusliche Gewalt gibt es in allen Schichten - nicht nur körperliche, auch psychische und emotionale Misshandlungen können Menschen das Leben zur Hölle machen und gravierende Folgen haben.

Kein Arzt darf vor dem Problem die Augen verschließen und meinen, dass es ihn eigentlich nichts angeht. Ärzte müssen davon ausgehen, dass ein Teil ihrer Patientinnen und Patienten unter häuslicher Gewalt leidet. Sie dürfen aber nicht erwarten, dass die Menschen von sich aus das Gespräch suchen. Angst, Scham oder schlechte Erfahrungen halten viele Opfer davor zurück, sich zu offenbaren.

Thema Gewalt muss enttabuisiert werden

Deshalb ist es wichtig, dass die Mediziner den ersten Schritt tun und Gesprächs- sowie Hilfebereitschaft signalisieren. Für ÄKNo-Präsident Rudolf Henke gehört die Frage nach Gewalterfahrungen zur guten Anamnese.

Das Thema sollte wie Gewicht, Stuhlgang, das Rauchen oder Trinken regelhaft abgefragt werden, empfiehlt er. Das trage dazu bei, das Thema zu enttabuisieren. Zu Recht weist Henke darauf hin, dass dies nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Ärzte gilt. "Dann entfällt ein Stück weit die Hemmung, die man selbst empfindet."

Die regelhafte Aufmerksamkeit von Seiten der Ärzte ist notwendig, denn Gewalt hinterlässt nicht nur sichtbare körperliche Spuren. Viele Gewaltopfer kommen mit psychosomatischen Beschwerden oder psychischen Symptomen in die Praxis.

Wenn ein Arzt das Gespräch auf das Thema Gewalt lenkt und einen Patienten oder eine Patientin auf mögliche persönliche Erfahrungen anspricht, muss er ausreichend Zeit für die Antwort lassen. Vielleicht hat der Patient nicht mit einer entsprechenden Frage gerechnet und muss in Ruhe überlegen, wie er damit umgeht.

Manche Betroffene verneinen, dass sie Opfer häuslicher Gewalt sind, selbst wenn vieles dafür spricht. Für den Arzt darf der Fall damit aber nicht erledigt sein. Er muss dem Patienten das klare Signal geben: Auch später habe ich immer ein offenes Ohr für Dich. Wenn er ihnen wirklich helfen will, darf der Mediziner auf keinen Fall Druck auf die Patienten ausüben. Denn dann nimmt er ihnen die Autonomie und gibt ihnen - wenn auch mit der besten Absicht - erneut ein Gefühl der Ohnmacht.

Gefragt sind vor allem Rücksichtsnahme und viel Geduld, betont Dr. Wolfgang Wöller, Leitender Abteilungsarzt der Rhein-Klinik in Bad Honnef und spezialisiert auf Trauma-Folgeerkrankungen. Das sei gerade für Ärzte, die es gewohnt sind zu handeln, nicht immer leicht. Dennoch: "Jede Form von Aktionismus ist unbedingt zu vermeiden", rät er.

Es geht um die Bildung von Netzwerken

Auch wenn der Arzt davon ausgeht, dass seinem Patienten oder seiner Patientin in seiner häuslichen Umgebung Gewalt angetan wird, muss er die Schweigepflicht wahren - außer wenn Gefahr im Verzug ist. Das Wissen um die Schweigepflicht ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich Gewaltopfer dem Arzt anvertrauen.

Will der Patient gemeinsam mit dem Arzt einen Ausweg aus seiner Situation suchen, braucht er oft auch therapeutische, rechtliche und soziale Unterstützung. Dann ist es gut, wenn der Arzt ihm konkrete Hilfsangebote nennen kann. Keiner kann allein den Menschen in ihrer Not helfen. Deshalb ist die Bildung von Netzwerken mit Vertretern verschiedener Berufsgruppen wichtig, auf die jeder im Bedarfsfall zurückgreifen kann.

Es ist klar: Die Verantwortung, die auf Ärzten lastet, ist groß. Die Versorgung von Gewaltopfern sprengt die berufliche Routine und verlangt ihnen auch sonst sehr viel ab. Aber die Ärzte müssen sich der Herausforderung stellen. Sie sind es ihren Patienten schuldig.

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