Abgründe im deutschen Krankenhausalltag

Monetik statt Ethik?

Eine Befragung unter Klinikmanagern und -ärzten lässt Abgründe im deutschen Krankenhausalltag befürchten: Ökonomie scheint das oberste Primat zu sein.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Welche DRG bringt im konkreten Fall das meiste Geld? Diese Frage müssen sich Klinikärzte anscheinend öfter stellen.

Welche DRG bringt im konkreten Fall das meiste Geld? Diese Frage müssen sich Klinikärzte anscheinend öfter stellen.

© hjschneider/stock.adobe.com

BREMEN. Das Vertrauen der Ärzte in die ethische und medizinische Korrektheit der stationären Medizin schwindet. Das ist eines der Studienergebnisse, die der Gesundheitssystemforscher Professor Karl-Heinz Wehkamp vom Socium Forschungszentrum der Universität Bremen und der ehemalige Klinikmanager Professor Heinz Naegler am Montag in Bremen vorgestellt haben.

Offenbar glauben die Ärzte selbst immer seltener an das, was sie tun. Grund: Der ökonomische Druck zwingt sie immer häufiger, ihre Patienten nach wirtschaftlichen Kriterien zu behandeln.

"Hüften müssen bis Weihnachten weg"

Die Studienleiter haben 61 qualitative Interviews mit Ärzten und Geschäftsführern verschiedener Krankenhäuser geführt, und in schriftlichen Befragungen, Diskussionsveranstaltungen sowie Podiumsdiskussionen die Gründe und Abgründe der Ökonomisierung der Krankenhausmedizin ausgelotet: Da werden Patienten mit Beckenbruch nach Hause geschickt, weil ihre Behandlung nicht lukrativ genug ist, berichteten Interviewpartner.

In einer anderen Klinik soll der Chef Kaiserschnitte vorgezogen haben, weil auf der Neonatologie Betten frei waren. "So etwas müsste man eigentlich anzeigen", kommentiert Wehkamp. In wieder einem andern Haus kommt der Geschäftsführer im Spätsommer auf die Ärzte zu und beklagt, "dass wir noch 50 künstliche Hüften am Lager haben. Die müssen bis Weihnachten weg!", zitierte Wehkamp.

In einem Krankenhaus schlug der Radiologe vor, bei sämtlichen Patienten ab einem bestimmten Alter die Hüften zu röntgen. In einem Interview berichteten Ärzte, der leitende Kardiologe sei über durch die Stationen gezogen und habe verlangt, Patienten auch bei geringsten Anlässen zur Herzkatheter-Untersuchung anzumelden. "Wer von den Assistenzärzten das nicht machte, bekam Ärger", heißt es.

DKG wehrt sich

Postwendend meldete die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) Kritik an der Studie an. Sie sei nicht repräsentativ. Die Autoren wollten lediglich öffentlich Aufmerksamkeit erregen, so DKG-Geschäftsführer Georg Baum.

Anders der Präsident der Bundesärztekammer Professor Frank Ulrich Montgomery. Er forderte unter anderem, Krankenhausärzte stärker als bisher an der Betriebsführung zu beteiligen. "Patienten sind keine Kunden und Ärzte keine Kaufleute", kommentiert Montgomery die Studie. "Dabei muss es bleiben."

Dass die Interview-Ergebnisse die Versorgungsrealität in deutschen Kliniken nicht eins zu eins abbilden, betont auch Wehkamp. "Wir haben immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt." So seien die angezeigten Missstände nicht die Regel. "Aber sie kommen zunehmend vor." Die Prinzipien der Patientenautonomie und das Gebot, nicht zu schaden, würden verletzt.

Klar, dass nicht nur die Patienten manchmal unter den Bedingungen leiden, unter denen sie behandelt werden, sondern auch ihre Ärzte. Denn mit vielen der angesprochenen Probleme werden sie alleine gelassen. "Viele Geschäftsführer dürfen oder wollen bestimmte Dinge nicht wissen, die auf den Stationen passieren", so Wehkamp zur "Ärzte Zeitung". "Etwa wenn die Dauer einer künstlichen Beatmung verlängert wird, um eine höhere DRG auszulösen."

Am Schluss müssten die Ärzte das Dilemma mit sich selbst ausmachen, denn wegen der Schweigepflicht dürfen sie sich auch nicht an die Öffentlichkeit wenden. Kein Wunder, dass die Situation auch auf ihre Gesundheit durchschlägt.

Die Studie zitiert einen Arzt, der von psychischen Zusammenbrüchen junger Kollegen berichtet, vom Tinnitus eines zweiten, einem Hörsturz und hypertensiven Krisen einer dritten Kollegin – "das war so die letzten 1,5 Jahre".

Patientenautonomie?

Um die Situation zu verbessern, braucht es mehr Geld für die Kliniken, daran ließen die Studienleiter keinen Zweifel. Aber sie schlugen auch vor, erneut über Priorisierung medizinischer Leistungen nachzudenken.

Außerdem bräuchten Kliniken einen Kodex, der die Patientenautonomie und das Prinzip des Nicht-Schadens garantiert. Wehkamp: "Vor allem kann es nicht sein, dass in den Krankenhäusern der Kaufmann die letzten Entscheidungen trifft."

Karl Naegler, Karl-Heinz Wehkamp: Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung, Krankenhausärzte und Geschäftsführer im Interview, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Erscheinungsdatum: voraussichtlich Januar 2018.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Ökonomisierung: Blick aufs Positive versperrt

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