Notfall oder nicht?
Patienten am Telefon richtig einschätzen
In der Praxis gehen im Alltag viele Anrufe von Patienten ein. Wie MFA wichtige von unwichtigen trennen können, zeigte jüngst ein Workshop in Heidelberg.
Veröffentlicht:HEIDELBERG. Jedes Mal wenn das Telefon in der Hausarztpraxis klingelt, müssen Medizinische Fachangestellte (MFA) auf der Hut sein: Liegt ein Notfall vor? Muss der Patient noch am gleichen Tag einbestellt werden?
Oder handelt es sich bei dem Anrufer um jemanden, der durchaus auf einen Termin bis zum übernächsten Tag warten kann? "Notfälle am Telefon", hieß das Thema eines Workshops beim 20. Heidelberger Tag der Allgemeinmedizin.
Konkret ging es um Tipps, wie man als MFA durch cleveres Nachfragen schnell herausfinden kann, wie dringlich ein Anruf ist.
Notfälle in der Hausarztpraxis - das kann quasi alles sein: ein drohender Herzinfarkt, ein Verdacht auf Schlaganfall, ein plötzlicher lebensbedrohlicher Allergieanfall oder schwere Verletzungen nach Stürzen sowie Verbrennungen.
"Jeder Anrufer braucht ihre volle Konzentration", warnt Iris Schluckebier, Workshopleiterin und MFA ihre Kolleginnen.
Dass genau dieser Tipp in der Alltagshektik nicht immer leicht umzusetzen ist, weiß sie selbst: "Da rattert der Drucker neben Ihnen und wuselt eine Kollegin auf der Suche nach einer Patientenakte um Sie herum. Außerdem steht ein Patient mit erhobener Augenbraue vor Ihnen am Empfang und ist der Meinung, dass er jetzt an der Reihe ist."
Dennoch bleibt sie dabei: "Sie müssen einerseits den Notfall sicher erkennen, aber andererseits auch aufpassen, dass nicht der Tagesablauf der Praxis gesprengt wird, weil sie jeden Anrufer noch am selben Tag einschieben wollen", macht Schluckebier, die auch wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni Witten-Herdecke ist, deutlich.
Da werde jeder Chef und jede Chefin sauer, weiß die MFA.
Gesichtshälfte war gelähmt
"Mich rief vor zwei Monaten eine ältere Dame an und meinte nur, ihr sei irgendwie schlecht und ob sie kommen könnte", berichtet eine Workshopteilnehmerin. An dem Morgen sei es in der Praxis eher ruhig gewesen.
Sie habe die Dame also direkt einbestellt, obwohl sie keine direkte Dringlichkeit gesehen habe. Eine Stunde später erschien die Frau. "Ich war schockiert. Die Dame hatte die eine Gesichtshälfte gelähmt. Sie hatte offensichtlich einen Schlaganfall und musste sofort in die Klinik eingewiesen werden", erzählt die MFA.
Sie schüttelt in Erinnerung an die Situation mit ihrem Kopf. "Die alte Dame war sogar noch mit dem Bus gekommen!", schiebt sie nach. Hätte sie am Telefon durch stärkeres Nachfragen herausfinden können, dass es sich hier um einen Notfall handelt? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Zu sehr wissen die meisten Praxisangestellten im Raum, wie unterschiedlich Patienten ihre Krankheiten am Telefon schildern oder Termine einfordern.
"Manche Anrufer verharmlosen ihre Probleme, andere dagegen spielen ihren starken Schnupfen zum Notfall hoch", fasst eine MFA aus Heidelberg zusammen. Im Zweifelfall wird immer der Arzt gefragt, sind sich alle Praxismitarbeiterinnen im Raum einig.
Cornelia Jäger ist Ärztin in Weiterbildung. Auch sie kennt die Probleme am Telefon. "Ich hatte kürzlich eine Patientin am Hörer, die fragte mich ganz harmlos, ob Sie Eis auf Ihr Auge legen dürfe", erzählt sie.
Einen Termin habe die Frau gar nicht gewollt. Erst im weiteren Gespräch habe sich herausgestellt, dass die Patientin schwer in ihrer Wohnung auf das Gesicht gefallen war und ein großes Brillenhämatom am rechten Auge hatte.
Jäger: "Als ich fragte: Wie groß ist denn Ihre Beule?, antwortete sie mir: Ach, nur die rechte Gesichtshälfte ist geschwollen!" Die Ärztin, die derzeit bei der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung in Heidelberg mitarbeitet, spricht in der Runde von Symptomen eines Schädelbasisbruchs.
Hilft separate Notrufnummer?
Die Schilderungen beim Heidelberger Workshop machen schnell deutlich, wie wichtig es ist, bei Patienten am Telefon nachzuhaken. Grundsätzlich solle man jeden Anrufer fragen, wofür er einen Termin oder einen Hausbesuch wünsche, rät Schluckebier.
Fielen beispielsweise Stichworte wie "Bewußtlosigkeit, akute heftige Schmerzen, Atemnot, Thoraxschmerz oder Kaltschweißigkeit" müsse aufgemerkt und nachgefragt werden: "Wo sind die Schmerzen? - hinter dem Brustbein oder woanders?"
Ist es ein Schmerz bei Anstrengung, der in Ruhe verschwindet? Gezieltes Nachfragen gebe weitere Informationen, ob es sich um einen gewöhnlichen Termin oder einen Dringlichkeitsfall handele.
"Prima ist es natürlich, wenn Sie in Ihrer Praxis eine separate Notrufnummer haben, über die Patienten nur in dringenden Fällen anrufen dürfen", rät die MFA aus Haltern am See.
Doch eine Arzthelferin meldet sich skeptisch. In ihrer Praxis werde diese Nummer gerne auch von Patienten in Anspruch genommen, die auf der gewöhnlichen Nummer - zum Beispiel am hektischen Montagmorgen - nicht durchkämen.
Empathie ist in jeder Praxis wichtig
"Die brauchen dann nur einen Termin, eine Überweisung oder ein Rezept!", klagt sie. "Einfach aufhängen", kommentiert eine Kollegin aus der Runde mit trockenem Ton. Ganz ernst meint sie dies jedoch nicht. Freundlichkeit und Empathie mit Patienten ist für jede Hausarztpraxis wichtig. Dennoch:
"Bleiben Sie freundlich, aber bestimmt! Erklären Sie dem Anrufer kurz: dies ist eine Notrufnummer, die wir für dringende Fälle frei halten müssen", rät Schluckebier.
Man solle den Patienten in nettem Ton entschlossen bitten, auf der Praxisnummer anzurufen, damit man ihm weiterhelfen könne. Dann solle man sofort auflegen. "Wenn Sie auch nur einmal einknicken und auf der Notrufnummer Termine verteilen, dann ist Ihre Notrufnummer quasi als solche nicht mehr tauglich."
Der "Tipp" von einer Praxis- Alternativnummer spreche sich ansonsten in jedem Dorf wie ein Lauffeuer herum. In dem Fall müsse man Patienten freundlich erziehen.
"Mein Chef gibt für seine palliativmedizinischen Patienten sogar seine private Handynummer heraus. Und das klappt bestens", informiert Schluckebier weiter.
Die Patienten schätzten dieses Angebot des Doktors, in Notfällen dort anrufen zu dürfen, so sehr, dass Sie es in der Tat nicht ausnützen würden. (mm)