Regress
SG Marburg stärkt sprechende Medizin bei Psychosomatik
Ein Orthopäde konnte erstinstanzlich mit Erfolg Honorar-Rückforderungen wegen häufiger psychosomatisch begründeter Gesprächsleistung abwehren. Die Prüfstelle hätte ihn nicht nach statistischen Mittelwerten beurteilen dürfen.
Veröffentlicht:Kassel. Bei einer Einzelfallprüfung müssen die Prüfgremien tatsächlich auch Einzelfälle prüfen. Ein statistischer Vergleich reicht hier zur Rechtfertigung von Honorarkürzungen nicht aus, entschied das Sozialgericht Marburg in einem kürzlich veröffentlichten Urteil. Darin bekräftigte es zudem seine Auffassung, dass die EBM-Ziffer 35110 („Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen“) auch ohne „F-Diagnose“ abrechenbar ist, allerdings nur bei bestimmten Störungen. Diese müssen dann auch dokumentiert sein.
Der Kläger ist Orthopäde in Hessen. Bei der Abrechnung der GOP 35110 hatte er in den Quartalen IV/2015 bis III/2016 den Fachgruppendurchschnitt jeweils um ein Vielfaches überzogen. Die Prüfungsstelle kürzte deshalb insgesamt 10.900 Euro brutto.
Dabei hatte die Prüfungsstelle allerdings keine statistische Vergleichsprüfung vorgenommen, sondern eine Einzelfallprüfung, weil nur die Hälfte aller Orthopäden die GOP 35110 überhaupt abrechnet. Die Honorarkürzung stützte sie aber dennoch weitgehend auf die Statistik. Zudem sei in zahlreichen Fällen keine psychische „F-Diagnose“ dokumentiert. Laut EBM ist für die Abrechnung der Gebührenziffer eine Qualifikation nach der Psychotherapie-Vereinbarung erforderlich, dies war hier aber nicht streitig.
Zur Rechtfertigung seiner häufigen „verbalen Interventionen“ hatte der Orthopäde seinen „ganzheitlichen Ansatz“ betont. Seine Praxis sei Anlaufstelle für Patienten mit Anpassungsstörungen oder in Konfliktsituationen. Viele seien adipös, wohl über 30 Prozent in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Hierüber würden sie allerdings kaum sprechen. Stigmatisierende „F-Diagnosen“ würde er wenn möglich vermeiden.
Das SG Marburg bekräftigte nun zunächst seine bisherige Rechtsprechung, wonach zur Abrechnung der GOP 35110 eine „F-Diagnose“ nicht erforderlich ist. Allerdings sei die GOP im Kapitel zu den Leistungen nach der Psychotherapierichtlinie aufgeführt. Daher könne sie auch nur bei den dort genannten Indikationen abgerechnet werden, etwa affektive Störungen, Angst- und Zwangsstörungen sowie Anpassungs-, Ess- und nichtorganische Schlafstörungen.
Ärzte müssten dies dann aber nicht auch als Abrechnungsdiagnose angeben, betonte das SG. Es reiche aus, wenn die Diagnose oder Indikation aus der Patientendiagnose hervorgehe. „Dies gilt umso mehr im Rahmen der Einzelfallprüfung, bei der ja gerade eine konkrete Betrachtung des jeweiligen Abrechnungsfalles geboten ist.“
Hier habe der Orthopäde seinen in der Facharztgruppe unüblichen ganzheitlichen Ansatz betont und „ein Patientenklientel beschrieben, das häufig von psychosomatischen Beschwerden betroffen ist“. Die Prüfstelle müsse sich daher Patientendokumentationen ansehen und Einzelfallbewertungen vornehmen, um dann die Honorarabrechnung neu zu bescheiden, so das Gericht. (mwo)
Sozialgericht Marburg, Az.: S 17 KA 527/20