Adipositas
Krankenkassen fordern mehr strukturierte Behandlungsprogramme
Es gilt, in den nächsten Jahren eine regelrechte Adipositas-Epidemie einzudämmen. Experten fordern unter anderem ein Disease Management Programm. Kurzfristigen Mehrausgaben würden langfristig erhebliche Einsparungen folgen.
Veröffentlicht:Kampf dem Fett – dafür haben Experten jüngst in München konsequente Lösungen gefordert. Für die rapide wachsende Zahl adipöser Patienten mangele es an wirksamen Therapien, so die einhellige Meinung beim Fachtag der DAK Landesvertretung und des bayerischen Gesundheitsministeriums. Einen "(…) erstaunlichen Grad an Fehl- und Unterversorgung", attestierte Sophie Schwab, Leiterin der DAK Bayern, dem Gesundheitssystem. Dabei handele es sich bei Adipositas um "(…) eine der größten Herausforderungen für das Gesundheitswesen". Schon jeder Vierte sei adipös, die Anzahl extrem Adipöser mit einem BMI über 40 habe sich seit 1999 verdoppelt, die Zahl der Magenoperationen verdreifacht. Adipositas gelte als Auslöser für 60 andere Erkrankungen, wie Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen. Daher seien viele Übergewichtige schwer beeinträchtigt.
Ernährungstherapie als Heilmittel
"Wir brauchen ein strukturiertes, flächendeckendes Konzept", konstatierte Dr. Christina Holzapfel vom Institut für Ernährungsmedizin am Klinikum rechts der Isar der TU München. Ärzte müssten Patienten bereits in einem frühen Stadium des Übergewichts ansprechen und ihnen konkrete Empfehlungen für die weitere Behandlung geben. Dabei müsse das komplexe Ursachengeflecht von genetischen Faktoren, früher Sozialisation, Lebensstil und Umwelteinflüssen berücksichtigt werden.
Die DAK Gesundheit fordert, Adipositas, so wie es beispielsweise die WHO tut, als Krankheit mit Behandlungsbedarf anzuerkennen. Insbesondere müsse gezielte Ernährungstherapie für Betroffene als Heilmittel zugelassen, und damit reguläre Kassenleistung werden. Die Krankenkasse hat ein Versorgungskonzept erstellt, das Ernährungstherapie, Reha-Sport und bei Bedarf Psychotherapie beinhaltet. Es orientiert sich an der S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Dem DAK-Konzept zufolge sollen Ärzte und Ernährungsberater Patienten ab einem BMI von 30 helfen, langfristig ihre Ernährung umstellen.
Insbesondere den Hausärzten könnte dabei eine wichtige Lotsenfunktion zukommen. Bariatrische Operationen seien dagegen nur als "ultima ratio" zu sehen, wenn andere Maßnahmen scheiterten, so Schwab. Sie kämen ab einem BMI von 40 oder mehr in Frage.
Internistin Dr. Veronika Hollenrieder vom Ambulanten Diabeteszentrum Unterhaching betonte mögliche Folgeschäden solcher Eingriffe. Sie selbst habe mehrfach Patienten nach Operationen behandelt, die womöglich vermeidbar gewesen wären. Manche Betroffenen seien offenbar fehlerhaft informiert worden. Ihnen sei etwa gesagt worden, nach einer Magen-Op sei auch ihr Diabetes dauerhaft geheilt. Operationen müssten zurückhaltend eingesetzt werden, so Hollenrieder. Zudem müssten die Patienten nicht nur über kurzfristige Vorteile, sondern auch über mögliche langfristige Folgeprobleme aufgeklärt werden. Grundsätzlich müssten seelische Ursachen der Adipositas mehr berücksichtigt werden. "Wir müssen solche Angebote schaffen", forderte die Internistin. In ihrer Praxis treffe sich zum Beispiel alle zwei Wochen eine Adipositas-Gruppe zum Austausch unter Betroffenen. Da es um einen langfristigen Behandlungsbedarf gehe, solle in der GKV zudem ein Disease Management Programm (DMP) Adipositas etabliert werden.
Weniger Folgeerkrankungen und Klinikaufenthalte
Laut DAK Versorgungsreport könnte ein umfassendes Versorgungskonzept das Gesundheitssystem entlasten. Sollten 15 Prozent statt bisher nur sechs Prozent der Adipösen nach einem geeigneten Konzept behandelt werden, werde das zwar erst mal teurer – die DAK geht von 1,28 Milliarden Euro aus. Allerdings würde allein durch entfallende Klinikbehandlungen innerhalb von zehn Jahren eine ebenso hohe Summe eingespart. Innerhalb dieses Zeitraums würde die Zahl der Adipositaspatienten um zwei Millionen sinken. In der Folgedekade sinke die Zahl um eine weitere Million. Entsprechend würden zudem viele Folgeerkrankungen und Todesfälle vermieden. "Eine einzige Kasse kann das gar nicht leisten", stellte Schwab klar. Es gehe vielmehr darum, bei der Behandlung von Adipositas umzudenken.
Die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) betonte die Bedeutung früher Prävention, um Adipositas von vornherein zu verhindern. In Bayern sei die Zahl übergewichtiger Kinder bei der Einschulung von 3,9 Prozent im Jahr 2009 auf nun 3,2 Prozent gesunken. "Das geht in die richtige Richtung", so die Ministerin. Das Projekt "Gesund leben in der Schwangerschaft (GeliS)" setze schon vor der Geburt an. Übergewicht oder starke Gewichtszunahme werdender Mütter erhöhe das Adipositas-Risiko ihrer Kinder, mahnte Huml.