Vegane Kost als Ersatzreligion
Radikalisierung der Ernährung schreitet munter voran
Nur noch Sojawürste und Superfood? Wer seine Ernährung mit religiösem Eifer betreibt, leidet möglicherweise an einer Essstörung. Und die kann Folgen für die ganze Familie haben.
Veröffentlicht:Früher haben die Menschen gefastet, um in den Himmel zu kommen, heute fasten sie, um gesund in den Himmel zu kommen", ätzte Dr. Manfred Lütz bei einer Veranstaltung in Berlin. Die Ernährung, so der Kölner Psychiater, Theologe und Kabarettist, ist zur neuen Religion geworden.
Der Trend zur Ideologisierung wenn nicht gar Radikalisierung schreitet munter voran, können auch andere Psychiater bestätigen. "Es ist schon erstaunlich, welche Leute zu unseren Infoveranstaltungen kommen", berichtet Professor Hans Hauner, Direktor am Zentrum für Ernährungsmedizin der TU München. Er erlebt immer wieder, wie schwer es Veganern und Vegetariern fällt, auf eine gute Versorgung mit B-Vitaminen zu achten, vor allem auch in der Schwangerschaft. Gerne nennt er dann Studien, in denen Föten unter Vitaminmangel zu klein wurden. Vitamin B12 zu supplementieren sei aber ein Vorschlag, der häufig nicht gut ankomme. "Dann sind die Kinder eben klein, mir geht es ums Prinzip", bekam er schon zu hören. "Hier steht oft eine Ideologie im Vordergrund, die man nicht mit rationalen Argumenten beseitigen kann", sagte Hauner.
Gesunde Ernährung oder Gesundheitswahn?
Wo genau die Grenzlinie zwischen gesunder Ernährung und Gesundheitswahn verläuft, ist mitunter schwer zu erkennen. Einig sind sich Ernährungsmediziner und Psychiater aber in einem Punkt: Die Bedeutung der Nahrungszufuhr hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in den wohlstandsgesättigten Industrienationen einen enormen Wandel erfahren. "Ernährung dient immer mehr dazu, sich darzustellen und sozial abzugrenzen. Deshalb steigt das Interesse am Thema Essen sowie an extremen bis absurden Ernährungsformen", erläuterte der Experte.
Die Medien befeuerten zudem immer wieder neue Ernährungstrends, oft von Starköchen oder Schauspielern propagiert, garniert mit blumigen Versprechen und angeblich hohem Gesundheitswert, aber meist völlig frei von wissenschaftlichen Fakten. "Hier sehen wir oft eine gnadenlose Ausbeutung von Emotionen", sagte Hauner und sprach von häufig unseriöser Geschäftemacherei. Galt billiger Analogkäse auf der Pizza vor Kurzem noch als Skandal, so werde er heute als teures Edelprodukt an Veganer verkauft, oft mit deutlich mehr Zusatzstoffen als richtiger Käse. Ähnliches gelte auch für Ersatzwurst; solche Lebensmittel müssten mit vielen Additiva versehen werden, um sich in Geschmack und Konsistenz den traditionellen Lebensmitteln zu nähern.
Kein gutes Haar ließ der Ernährungswissenschaftler auch an sogenannten "Superfoods" wie Chiasamen, die in ihrer mittelamerikanischen Heimat keiner ohne Not essen würde, die hier aber teuer verkauft werden. Vom Nährstoffgehalt könne es Chia nicht einmal mit dem heimischen Leinsamen aufnehmen. " Ein gesundheitlicher Mehrwert von Superfoods im Vergleich zu heimischem Obst und Gemüse ist nicht erkennbar", so Hauner.
Nun ist es natürlich noch lange kein Fall für den Psychiater, wenn Menschen haltlosen Versprechen auf den Leim gehen und viel Geld für billigen Analogkäse und Ersatzwürste ausgeben. Für Ärzte wird es aber interessant, wenn solche Menschen dabei Schäden für sich oder anderen in Kauf nehmen – wie die Schwangere, die B-Vitamine für Teufelszeug hält. In solchen Fällen sei damit zu rechnen, dass die Betroffenen an einer Essstörung litten oder eine solche entwickelten, erläuterte Dr. Martin Greetfeld, Oberarzt an der Schön Klinik Roseneck in Prien.
Erste Station auf dem Weg zur Anorexie
Der Facharzt für Psychiatrie und psychosomatische Medizin nannte als Beispiel eine 21-jährige Veganerin aus seiner Klinik. Die Frau hatte ein Jahr vor der Aufnahme einen starken Fokus auf gesunde Ernährung gelegt und dies sowohl mit einem positiven Lebensgefühl als auch ethischen Aspekten begründet. Ihr selbst verhalf die Ernährung zu mehr Anerkennung und einer Selbstwertstabilisierung.
Irgendwann, so Greetfeld, verfiel sie aber in ein stark orthorektisches Ernährungsverhalten. Dieses diente dann als Vorwand für die Nahrungsrestriktion. Schließlich war sie nach eigenen Angaben nicht mehr in der Lage, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen und entwickelte eine ausgeprägte Anorexie – bei der Klinikaufnahme hatte sie einen BMI von knapp über 13.
Offenbar ist ein solcher Verlauf bei Anorexie- und Bulimiepatienten nicht selten. Greetfeld verwies auf eine Untersuchung bei 437 Patienten an der eigenen Klinik; die meisten kamen aufgrund einer Anorexie oder Depression. Rund 18 Prozent der Patienten mit Anorexie oder Bulimie waren Vegetarier, aber nur 4 Prozent der Depressiven – bei ihnen lag die Rate auf dem Niveau der Allgemeinbevölkerung. Bei 38 Prozent der Patienten mit Anorexie und 25 Prozent mit Bulimie konnten die Ärzte auch eine Orthorexie feststellen – also ein pathologische Fixierung auf eine vermeintlich gesunde Ernährung. Unter den Depressiven waren es nur 2 Prozent und damit nicht mehr als in der übrigen Bevölkerung.
Besonders kritisch bei der Ernährung seien ideologische Einengungen und das Gefühl einer moralischen Überlegenheit sowie eine soziale Isolation mit eingeschränkter Lebensqualität: Wer nur noch bestimmte Lebensmittel essen kann, wird irgendwann keine Einladungen zum Ausgehen oder zu Partys mehr annehmen. Um solche Menschen wird es dann sehr schnell einsam.