"Wir stehen vor einer Revolution"
Migräne-Experten sehen neue Option gegen Kopfschmerz
Bessere Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen als bisherige Prophylaktika: Die neuen CGRP-Antagonisten könnten die Migräneprophylaxe auf neue Beine stellen.
Veröffentlicht:KOPENHAGEN. Heute erklären sie einem Migräne-Patienten fünf Minuten lang, weshalb Sie ihm ein Antikonvulsivum geben und sagen ihm: Das könnte Sie dick machen, das könnte Sie dumm machen und das könnte Anfälle auslösen. Vielleicht hilft es aber gegen die Kopfschmerzen", sagt Professor Peter Goadsby vom King's College in London.
Beim europäischen Neurologenkongress in Kopenhagen betonte er: In Kürze bestehe die Chance, den Patienten statt eines "zusammengewürfelten Haufens" von wenig wirksamen und nebenwirkungsstarken Prophylaktika eine Migräne-spezifische Behandlung anzubieten.
"Wir stehen vor einer Revolution", sagte Goadsby, der maßgeblich an der klinischen Entwicklung der CGRP-Antagonisten beteiligt war.
Prophylaxe wird meist schnell abgebrochen
Wie ausgeprägt die therapeutischen Defizite in der Migräneprophylaxe derzeit noch sind, machte Professor Julio Pascual von der Universität Santander in Spanien auf dem Kongress klar.
Die bisherigen Prophylaktika konnten in Studien die Zahl der monatlichen Migränetage im Vergleich zu Placebo im Mittel lediglich um einen Tag reduzieren, die Ansprechraten (mindestens 50 Prozent Reduktion der Migränetage) lagen bei einem Viertel bis einem Drittel.
Der Anteil von Patienten mit therapielimitierenden Nebenwirkungen war in den Studien dagegen oft noch höher und reichte von 20 Prozent (Propanolol) bis 45 Prozent (Topiramat). Vor allem Somnolenz, Gewichtszunahme und Übelkeit vergällen vielen Patienten die Prophylaxe
Ein Problem sei auch, dass viele der Nebenwirkungen noch vor einem erkennbaren prophylaktischen Effekt auftreten. Wenig überraschend hätten nach sechs Monaten rund 60 Prozent der Patienten die Migräneprophylaxe beendet.
Doch auch mit der Akuttherapie mit Triptanen sei noch rund ein Drittel der Patienten unzufrieden. Schmerzfrei nach zwei Stunden sei damit in der Regel nur ein Viertel bis ein Drittel, anhaltend schmerzfrei über 24 Stunden blieb nur ein Fünftel der Patienten. Viele müssten daher bei einer Migräneattacke mehrere Tabletten schlucken.
Neue CGRP-Antagonisten könnten helfen
Doch wie sieht es nun mit den neuen CGRP-Antagonisten aus? Inzwischen sind vier humanisierte monoklonale Antikörper gegen das "Calcitonin gene-related peptide" (CGRP) in der fortgeschrittenen klinischen Entwicklung. Sie werden meist alle zwei bis vier Wochen subkutan verabreicht.
Damit ließen sich in Studien bei Patienten mit episodischer und chronischer Migräne Ansprechraten von 50 bis 70 Prozent erzielen, die Zahl der monatlichen Kopfschmerztage ging um zwei bis drei Tage stärker zurück als in den Placebogruppen (von etwa sechs auf drei bis vier).
Als Nebenwirkungen traten in den Studien vor allem Reizungen an den Injektionsstellen auf, unerwünschte systemische Effekte wurden in der Regel nicht häufiger beobachtet als unter Placebo.
Ein Problem könnten neutralisierende Antiköper sein. In den Studien gab es nach Auffassung von Goadsby bislang jedoch keine Hinweise auf einen Wirksamkeitsverlust aufgrund solcher Antikörper.
Noch unbekannter Wirkort
Noch immer nicht ganz geklärt ist die Wirkweise der CGRP-Antagonisten. CGRP ist recht weit im Nervensystem verbreitet und von großer Bedeutung bei der trigeminalen Schmerzübertragung. So sind die Hirnhäute stark mit trigeminalen Fasern innerviert, die CGRP freisetzen.
In Tiermodellen zu Kopfschmerzen ließ sich die Ausschüttung von CGRP aus perivaskulären trigeminalen Fasern bei Schmerzattacken nachweisen. CGRP ist zudem ein potenter Vasodilatator kranieller Gefäße. All dies mag die Bedeutung bei der Migräneentstehung erklären.
Pascual wies jedoch darauf hin, dass auch ein großer Teil der Migränepatienten nicht von den neuen Medikamenten profitiert. Möglicherweise seien bei ihnen andere Neurotransmitter wie Glutamat oder vasoaktives intestinales Peptid (VIP) relevanter.
Nur für bestimmte Patienten einsetzbar?
Diese Patienten benötigten wohl eine andere Therapie. Möglicherweise könnten Biomarker wie CGRP- und VIP-Serumspiegel künftig diejenigen Patienten herausfiltern, die von der Behandlung am ehesten profitieren.
An welchen Stellen die CGRP-Antikörper ansetzen, ist unklar: Wird der nozizeptive Input trigeminaler Fasern moduliert, wirken die Antikörper, indem sie CGRP in den kraniellen Blutgefäßen neutralisieren, oder dringen sie ins Hirnparenchym vor? Im letzteren Fall müssten sie die Bluthirnschranke durchdringen.
Mit den bisher verfügbaren Methoden lässt sich jedoch nicht exakt feststellen, wo die Antikörper ihre Wirksamkeit entfalten.
Generell werde zwar davon ausgegangen, dass therapeutische Antikörper nicht die Bluthirnschranke überwinden, allerdings seien aktive Transportprozesse bekannt, die durchaus sehr große Proteine ins Gehirn schleusen können, erläuterte Professor Gitte Moos Knudsen von der Universität in Kopenhagen.
Zudem gebe es Hinweise, wonach die Bluthirnschranke bei Migräneattacken durchlässiger werde. Auch könnten manchmal recht geringe Konzentrationen einer Substanz im Gehirn eine pharmakologische Wirkung haben. Eine zentral wirksame Komponente der CGRP-Antikörper wäre also durchaus möglich.