Ärztin mit Asperger

"Ich war abseits, fühlte mich einsam, das tat weh"

Die Asperger-Diagnose erhielt sie zum Studienabschluss: Heute arbeitet Dr. Christine Preißmann trotz ihrer Krankheit in einer Klinik - ein Alltag, der ihr Halt gibt.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Ärztin und Therapeutin - trotz Asperger-Syndrom: Dr. Christine Preißmann.

Ärztin und Therapeutin - trotz Asperger-Syndrom: Dr. Christine Preißmann.

© Privat

NEU-ISENBURG. Die ärztliche Fortbildungsveranstaltung fand in einem verschlafenen Nest statt. Zu Beginn des Kurses erklärte der Leiter, dass hier um 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt würden. Christine Preißmann erschrak.

Eigentlich hatte sie am Abend noch einen Spaziergang geplant. Doch stattdessen stand sie frühabends am Fenster ihres Hotels und starrte gespannt aufs Trottoir. Nichts geschah.

Ihre Angst, erzählt Dr. Christine Preißmann, sei damals sehr real gewesen. An der Rezeption ihres Hotels habe sie sogar nachgefragt, wie lange man noch problemlos durch die Straßen laufen könne. "Ich glaube, in solchen Momenten denken die Menschen, ich wollte sie veräppeln."

Dabei liegt der Dieburger Ärztin nichts ferner. Tatsächlich nimmt sie ihre Gesprächspartner lediglich beim Wort. Eine typische Eigenart ihrer Entwicklungsstörung, für die es in der Medizin seit den 1980er Jahren den Begriff Asperger-Syndrom gibt.

Ob es sich bei der milderen Autismus-Variante um eine Krankheit oder eine spezielle Art der Informationsverarbeitung handelt, ist in der Wissenschaft umstritten. Christine Preißmann nennt es eine Behinderung.

"Ich habe viele gute Momente und bin sehr oft glücklich, aber ich merke immer wieder auch Schwierigkeiten im Alltag, Einsamkeit und Kontaktschwierigkeiten, Probleme mit Veränderungen, wörtliches Sprachverständnis, mangelnde Flexibilität."

Sie hat auch einen Schwerbehindertenausweis. "Wenn er hilfreich sein könnte, stecke ich ihn ein, ansonsten liegt er in der Schublade."

Spezialinteressen statt Trends

Christine Preißmann wurde 1970 in Dieburg geboren. Dass sie anders war als ihre Mitschülerinnen, merkte sie früh. "Die anderen Mädchen unterhielten sich über Mode, Musik oder Menstruationsbeschwerden und darüber, welcher Junge besonders süß war", erzählt sie.

"Damit konnte ich nichts anfangen." Sie interessierte sich eher für Weihnachtsmärkte, Pläne aller Art und große Flughäfen.

Solche Spezialinteressen sind für Menschen mit Asperger typisch, ebenso das starre Festhalten an Gewohnheiten. In Fächern wie Mathematik und Geografie, in denen es vor allem ums Lernen geht, war sie stark, während sie beim Analysieren von Literatur versagte.

Als abschreckendes Beispiel musste sie ihre Aufsätze vorlesen und wurde von ihren Mitschülern ausgelacht. Lehrer fühlten sich von ihr provoziert, sie galt als faul und ungezogen. "Ich war abseits, fühlte mich einsam, das tat weh."

Dass sich Preißmann nach dem Abitur für ein Medizinstudium entschied, hing auch mit ihrem Anderssein zusammen, aber das sollte sie erst später erkennen.

Als Kind und Jugendliche litt sie unter Knieschmerzen. Heute weiß sie, dass jene psychosomatisch bedingt waren. Aufgrund dessen durfte sie die Pausen im Klassenzimmer verbringen, musste nicht auf den Schulhof, was für sie Stress und Chaos bedeutete.

Vom Sportunterricht war sie befreit. "Dort wurde ich zuvor oft belächelt, da ich motorisch ungeschickt war." Auch an Klassenfahrten und Ausflügen, die die Routine durchbrachen, musste sie nicht teilnehmen.

Diagnose zum Studienabschluss

Aufgrund ihrer Beschwerden war sie oft bei Ärzten, was ihren Wunsch weckte, selbst einmal Medizin zu studieren.

Ihren Studienplatz bekam sie schließlich nicht über die Abiturnote, sondern über die Bestenquote im Medizintest. "Für diese Möglichkeit bin ich heute noch sehr dankbar."

Von 1990 bis 1997 studierte Christine Preißmann in Frankfurt am Main Humanmedizin. Die Diagnose Asperger erhielt sie mit Abschluss ihres Studiums: im Alter von 27 Jahren. "Das war eine große Erleichterung", erinnert sie sich, "eine Befreiung, dass es einen Namen dafür gab und nicht alles auf bösen Willen oder auf Faulheit zurückzuführen war."

Nach ihrer Promotion 1998 absolvierte die Ärztin eine Zusatzausbildung zur Psychotherapeutin. Heute arbeitet sie in Teilzeit im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik. "Der geplante und strukturierte Tagesablauf auf der Station kommt mir sehr entgegen", erklärt sie.

Das Neue und Ungewohnte bereite ihr zwar noch immer Schwierigkeiten, aber mit Hilfe einer Ergotherapeutin könne sie ihren Alltag inzwischen gut bewältigen. Auch in ihrem Beruf hat sie Strategien entwickelt, ihre Beeinträchtigung zu kompensieren.

Da sie sich, anders als ihre Kollegen, nicht auf den Anschein verlassen kann, ob ein Patient traurig oder wütend ist, fragt sie direkt nach dem Befinden und gelangt so auf geradem Weg zum Ziel.

Aufgrund ihrer speziellen Wahrnehmung erkennt sie Details, die anderen nicht auffallen. Umgekehrt hat sie Probleme, Zusammenhänge zu erkennen und das große Ganze zu überblicken. "Bis heute", sagt Christine Preißmann, "kann ich mir weder einen Film ansehen noch einen Roman verstehen."

Neben ihrer therapeutischen Arbeit macht sich die Ärztin seit zehn Jahren für die Aufklärung über Autismus und Asperger stark. Sie hält Vorträge - für Betroffene und deren Familien ebenso wie für Experten - und hat zudem mehrere Fachbücher veröffentlicht, etwa zum Thema "Mädchen und Frauen mit Asperger" oder zur Psychotherapie und Beratung von Betroffenen. In ihrem jüngsten Werk geht es um Resilienz.

Kraft für betroffene Mütter

Damit will Christine Preißmann vor allem die Mütter autistischer Menschen stärken. "Bei aller Sorge um das Kind ist es wichtig, auch an sich selbst zu denken, sich realistische Ziele zu setzen, Interessen neu zu entdecken und sich etwas Gutes zu tun", sagt die Ärztin und Therapeutin.

Dadurch stärkten Eltern ihre Widerstandskraft, was letztlich auch ihren Kindern zugutekomme.

Die eigenen Stärken gezielt einzusetzen, helfe auch ihr dabei, ihr Leben zu bewältigen, sagt Dr. Christine Preißmann. "Mittlerweile gelingt es mir im Gegensatz zu früher deutlich besser, für mich zu sorgen."

Die Arbeit in der Klinik mache sie glücklich. In ihrer Freizeit reist sie gern und pflegt ihre Hobbys. "Auch die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Autismus erfüllt mich sehr und gibt mir viel Kraft." Insgesamt sei ihr Leben ruhiger geworden. "Es ist ein Leben, das zu mir passt."

Lesen Sie dazu auch: In Unternehmen: Autismus als berufliche Qualifikation

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