"Ärzte sollten sich für die Betreuung von Behinderten öffnen"

Mehr Interesse und Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von Menschen mit mehrfacher oder geistiger Behinderung fordert Professor Michael Seidel - nicht nur von Ärzten, sondern auch von der Gesellschaft.

Veröffentlicht:

Michael Seidel Geboren 1950 in Dresden. Seit 1991 leitender Arzt der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel.

Ärzte Zeitung: Herr Professor Seidel, warum ist die Versorgung von Erwachsenen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung in Deutschland kaum ausgebaut?

Prof. Michael Seidel: Definitive Ursachen kann ich nicht benennen, wobei auch Traditionen und Ausgrenzung eine Rolle spielen. Für behinderte Kinder und Jugendliche haben wir ein einigermaßen zufriedenstellendes System zur medizinischen Versorgung. Neben der Regelversorgung gibt es Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren. Erwachsene finden keine vergleichbare Versorgungsstruktur vor. Es bleibt nur die Regelversorgung, die aber nicht auf die Bedürfnisse eingestellt ist. Nur wenige große Träger der Behindertenhilfe können einen medizinischen Dienst anbieten.

Ärzte Zeitung: Wie kann sich die medizinische Versorgung ändern?

Seidel: Die Ärzteschaft sollte sich mehr für die Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung öffnen. Wir brauchen eine bessere Aus-, Fort- und Weiterbildung für Ärzte zum Thema Behinderung. Als Ergänzung zum medizinischen Regelversorgungssystem benötigen wir ambulant tätige Medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Diese sollten auch Kompetenzzentren zur Beratung und Unterstützung für Niedergelassene werden. Der Mehraufwand in der ärztlichen Versorgung muss besser vergütet werden und sich in speziellen Ziffern im EBM widerspiegeln.

Ärzte Zeitung: Kann die Versorgung durch Geriater ein Weg sein, bis solch eine Struktur geschaffen ist?

Seidel: Das sehe ich sehr skeptisch. Es ist richtig, Ärzte, die sich mit der Altersmedizin beschäftigen, kommen oft gut mit kognitiven Einschränkungen ihrer Patienten zurecht. Aber per se kann ich Erwachsene mit geistiger Behinderung nicht den Geriatern zuschieben. Wichtig bei der Betreuung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ist nicht nur die fachliche Kompetenz. Auch Kommunikation, Respekt und die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes gehören zu einer bedarfsgerechten Versorgung.

Ärzte Zeitung: Hat die schlechte Versorgungssituation etwas mit der kaum vorhandenen Integration von Behinderten in die deutsche Gesellschaft zu tun?

Seidel: In einigen EU-Ländern wie zum Beispiel in Dänemark oder in den Niederlanden scheint die Inte-gration selbstverständlicher gelungen als bei uns. Die Diskussion kommt jetzt aber auch in Deutschland auf, es gibt eine wachsende Lobby. Im Gesundheitswesen müssen Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung ohne jede Benachteiligung versorgt werden.

Die Fragen stellte Rebecca Beerheide

Lesen Sie dazu auch: Das unbekannte Leben der Anderen UN fordert mehr Unterstützung für Behinderte Weitere Berichte zum Ärztetag

Jetzt abonnieren
Schlagworte:
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Tipps für die Praxis

So entwickeln Sie Ihre Arztpraxis strategisch weiter

Lesetipps
Bald nicht nur im Test oder in Showpraxen: Auf einem Bildschirm in der E-Health-Showpraxis der KV Berlin ist eine ePA dargestellt (Archivbild). Nun soll sie bald überall zu sehen sein auf den Bildschirmen in Praxen in ganz Deutschland.

© Jens Kalaene / picture alliance / dpa

Leitartikel

Bundesweiter ePA-Roll-out: Reif für die E-Patientenakte für alle

Husten und symbolische Amplitude, die die Lautstärke darstellt.

© Michaela Illian

S2k-Leitlinie

Husten – was tun, wenn er bleibt?

Die Ärzte Zeitung hat jetzt auch einen WhatsApp-Kanal.

© prima91 / stock.adobe.com

News per Messenger

Neu: WhatsApp-Kanal der Ärzte Zeitung