Das unbekannte Leben der Anderen

Der medizinische Fortschritt bringt für erwachsene Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung Licht und Schatten: Ihre Lebenserwartung steigt deutlich - für Ärzte entstehen neue Herausforderungen, die der Deutsche Ärztetag debattiert.

Von Rebecca Beerheide Veröffentlicht:
Ein möglichst eigenständiges Leben: Tobias Hille (26, links), Axel Lohmann (24, rechts) und Norbert Kunze (24, Mitte) wohnen in einer betreuten WG.

Ein möglichst eigenständiges Leben: Tobias Hille (26, links), Axel Lohmann (24, rechts) und Norbert Kunze (24, Mitte) wohnen in einer betreuten WG.

© Foto: dpa

Wenn Dr. Sabine Heinken das Christine-Heuser-Haus im Frankfurter Stadtteil Seckbach betritt, bestürmen sie die Bewohner von allen Seiten. "Die Unmittelbarkeit der Menschen hier zeichnet die Stimmung aus", erzählt die 51-jährige Allgemeinmedizinerin, die die medizinische Versorgung im Haus der Lebenshilfe übernommen hat. Das ist selten genug in der Main-Metropole, denn kein anderer Hausarzt in diesem Stadtteil wollte die Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung betreuen.

Lebenserwartung steigt - Versorgungsqualität nicht

Für erwachsene Menschen mit Behinderung gibt es in Deutschland keine flächendeckende Versorgung. Gründe für die Lücke gibt es viele - und durchaus auch positive: Der demografische Wandel erreicht auch die Menschen mit Behinderung. So steigt zum Beispiel die Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom pro Jahr um 1,7 Jahre - 1983 wurden Patienten mit Trisomie 21 noch etwa 25 Jahre alt, 2009 werden sie im Schnitt 60 Jahre alt.

Ähnlich sieht die Entwicklung auch bei Menschen mit anderen geistigen oder körperlichen Behinderungen aus. "Aufgrund des medizinischen Fortschritts dürfen viele Menschen mit Behinderung erwachsen werden", sagt Dr. Helmut Peters, ärztlicher Leiter des Kinderneurologischen Zentrums in Mainz. Für Kinder mit Behinderung gibt es zusätzlich zur Regelversorgung 135 Sozialpädiatrische Zentren. "Für Kinder und Jugendliche in Deutschland ist eine flächendeckende Versorgung vorhanden", stellt Peters fest. Aber: "Das gesellschaftliche System hat sich auf die Versorgung von erwachsenen Menschen mit Behinderung noch gar nicht eingestellt."

Sobald ein behinderter Mensch erwachsen wird, tauchen Probleme auf: "Dann sind die Sozialpädiatrischen Zentren nicht mehr zuständig. Es bleibt die Regelversorgung, die ihnen oft nicht gerecht wird", sagt Professor Michael Seidel, leitender Arzt und Geschäftsführer im Stiftungsbereich Behindertenhilfe der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel. Zwar gibt es zum Beispiel in Bethel einen integrierten medizinischen Dienst, viele andere Patienten werden aber durch Niedergelassene versorgt - ohne, dass es spezielle Verträge gäbe.

Die Versorgung von Menschen mit Behinderungen verlangt viel Einfühlungsvermögen. Den meisten Behinderten fällt es schwer, ihre Beschwerden zu benennen, manche verstehen den Grund des Arzt-Besuches nicht und werden unruhig, erzählt Heinken. Bei der Anamnese ist sie oft auf Unterstützung angewiesen: "Ohne Fremdanamnese, Beobachtungsgabe und Kooperation von Eltern und Betreuern ist eine Diagnose oft nicht möglich", sagt Heinken. Die erschwerte Diagnostik birgt Risiken: Oft können selbst einfache Diagnosen wie eine Blinddarmentzündung nicht richtig festgestellt werden - die Mortalitätsrate liegt bei 21 Prozent, bei Nicht-Behinderten ist sie im Promille-Bereich.

Können Geriater die Lücke schließen?

Daher kostet die Untersuchung vor allem eins: Zeit. Etwa doppelt so viel wie für Nicht-Behinderte, schätzt Heinken. Mehr Leistungen abrechnen kann sie dafür aber nicht, denn eine EBM-Ziffer gibt es nicht.

Und damit entsteht ein weiteres Problem für Ärzte in Praxis und Klinik. "Die Vergütungssysteme sind den Bedürfnissen von Behinderten nicht angepasst", sagt Peters. Daher fordern Peters und Seidel, neue Vergütungsziffern für die oft aufwendige Versorgung einzuführen. Allerdings wäre es damit nicht getan: "Als Ergänzung zur Regelversorgung benötigen wir eine Struktur von medizinischen Zentren für Erwachsene", sagt Seidel der "Ärzte Zeitung".

Für die akute Versorgungslücke könnte die Geriatrie ein möglicher Ausweg sein: Altersmediziner betreuen bereits Menschen, die sich oft nicht über ihren Gesundheitszustand äußern können. Doch für eine breite medizinische Versorgung müssen sich mehr Ärzte für den speziellen Zugang zu Behinderten aus-, fort- und weiterbilden, fordert Seidel. Ein Curriculum dafür hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ausgearbeitet.

Lesen Sie dazu auch: UN fordert mehr Unterstützung für Behinderte "Ärzte sollten sich für die Betreuung von Behinderten öffnen" Weitere Berichte zum Ärztetag

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