Interview mit Jens Spahn

"Wartezeiten sind nicht nur gefühlt!"

Der persönliche Kontakt soll der Goldstandard der Behandlung bleiben. Das sagt Gesundheitsminister Jens Spahn im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh und Anno FrickeAnno Fricke Veröffentlicht:
Jens Spahn im Gespräch mit Chefredakteur Wolfgang van den Bergh und Hauptstadtkorrespondent Anno Fricke (v.l.).

Jens Spahn im Gespräch mit Chefredakteur Wolfgang van den Bergh und Hauptstadtkorrespondent Anno Fricke (v.l.).

© Illian

Ärzte Zeitung: Wartezeiten machen die Menschen irre. Das sind Ihre Worte im Interview mit der Ärzte Zeitung Mitte 2014…

Jens Spahn: Wegweisende Worte...

Jetzt sind Sie in der Verantwortung. Wie wollen Sie den Weg in die Versorgung erleichtern.

Spahn: Die meisten Ärzte machen keinen Unterschied zwischen gesetzlich und privat versicherten Patienten. Aber zu oft wird er doch gemacht. Das ist nicht nur ein gefühltes Problem. In manchen Bereichen geht es unfair zu.

Jens Spahn (CDU)

Aktuelle Position: Bundesgesundheitsminister (CDU) seit März 2018

Ausbildung: Studium Politikwissenschaften, Bankkaufmann

Werdegang: Ab 2002 Bundestagsabgeordneter; 2015 – 2018 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium

Wenn wir wollen, dass unser Gesundheitssystem nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, dann müssen wir darauf reagieren. Das Wartezeiten-Problem ist das größte Aufregerthema zur Zeit - das Thema, bei dem sich die Legitimationsfrage stellt. Und deswegen kann ich den Ärzten nur anbieten, dass wir dieses Problem gemeinsam lösen. Es geht nicht darum, alle länger warten zu lassen und dadurch Gleichheit herzustellen. Es geht darum, dass wir den Patienten über bessere Terminservicestellen ein Angebot machen, wie sie schneller an einen Termin kommen.

Klar ist, dass dann auch die Vergütung derjenigen dazu passen muss, die zusätzliche Termine anbieten. Es soll niemand bestraft werden, wenn er zusätzlich Patienten aufnimmt.

Inwiefern könnte eine Lockerung des Fernbehandlungsverbots zur Lösung des Problems beitragen?

Spahn: Erst einmal finde ich es gut, dass sich der Ärztetag mit diesem Thema beschäftigt. Denn eines ist klar: Entweder wir gestalten die Digitalisierung des Gesundheitswesens gemeinsam – Ärzteschaft, Gesundheitswesen und Politik – oder es gibt Angebote von außen: Apple, Google, Dr. Ed. Die Patienten wollen offensichtlich digitale Angebote. Wenn es hilft, sollten wir die dann auch machen. Etwa wenn es um einfache Abklärungsfragen oder Rückfragen an Ärzte geht oder um die Verlängerung eines Rezepts. Das sollte auch online möglich sein. Das spart Wege und Wartezeiten und gibt dem Arzt Freiraum für Patienten, für die er mehr Aufmerksamkeit braucht. Das heißt nicht, ab jetzt alles nur noch online. Das ist nur ein Zusatzangebot. Der direkte Arzt-Patienten-Kontakt bleibt der Goldstandard der Behandlung.

Es soll eine Aufstockung um fünf Stunden bei der Mindestsprechstundenzeit auf dann 25 Stunden geben. Viele Ärzte leisten heute schon mehr. Haben Sie bestimmte Arztgruppen mit dieser Regelung im Blick?

Spahn: Nicht die Mehrheit der Ärzte. Denn die haben heute schon ihre Praxen sehr viel mehr als 20 Stunden pro Woche geöffnet. Wir wollen aber bei einer Minderheit eingreifen, die ihren Versorgungsauftrag nicht voll ausfüllt. Das dient auch dem Schutz derjenigen, die mehr machen, und ist ein Gebot der Fairness. Wenn der eine 25 bis 30 Stunden anbietet, der andere nur 20, dann verteilen sich Patientenströme entsprechend.

Dann werden aber auch ältere Ärzte unter Druck gesetzt, die vielleicht nur noch 250 Patienten haben. Wenn die mehr machen sollen, dann hören sie endgültig auf und fehlen dann…

Spahn: Wer 250 oder 300 Patienten hat, der kann ja auch seinen Arztsitz auf die Hälfte reduzieren. Dann lässt sich das alles miteinander vereinbaren. Niemand wird rausgedrängt. Wir brauchen diese Ärzte auch. Aber es ist heute schon so vorgesehen, dass man einen Arztsitz halbieren kann, wenn man regelhaft wenige Patienten hat. Wenn es gewünscht wird von der Ärzteschaft, kann ich mir auch noch mehr Flexibilisierung vorstellen. Umgekehrt hat der, der einen vollen Arztsitz, hat, auch einen Versorgungsauftrag. Die meisten Ärzte sehen das auch so.

J etzt hat die KBV vollmundig erklärt, für jede zusätzliche Stunde soll es mehr Geld geben. Gibt es mehr Geld?

Spahn: Ja. Mehr Patienten als bisher zu behandeln, muss sich für die Ärzte lohnen. Das muss zusätzlich vergütet werden und zwar extrabudgetär.

Übrigens: Es gibt seit 2012 den Auftrag an den Bewertungsausschuss, eine EBM-Ziffer zu entwickeln, die den Erstkontakt zu einem Patienten besser vergütet. So, dass es sich lohnt, wenn man neue Patienten aufnimmt. Da warten wir seit sechs Jahren drauf. Ich habe keine Lust, noch einmal sechs Jahre zu warten. Das werden wir beschleunigen.

Die KBV rechnet vor, dass über alle Arztgruppen 10 Prozent der Leistungen unentgeltlich erbracht werden müssen wegen des Budgets. Werden diese Leistungen künftig bezahlt?

Spahn: Das ist erst einmal eine Frage der Honorarverteilung in den jeweiligen KVen. Da gibt es ja Unterschiede zwischen Haus- und Fachärzten sowie zwischen den Facharztgruppen. Wissen Sie: Ich fände eine Welt ohne Budgets auch schöner. Die Erfahrung ist aber – und da nehme ich alle Leser der Ärzte Zeitung natürlich explizit aus – wenn jede ärztliche Tätigkeit zu vollen Sätzen bezahlt wird, dann werden mehr Leistungen erbracht als notwendig. Das geht nicht!

"Wartezeiten sind nicht nur gefühlt!"

© Illian

Apropos Geld. Wie wollen Sie denn die Ärzte motivieren, weiter an der GOÄ zu arbeiten?

Spahn: Brauchen die dazu meine Motivation? Ich habe den Eindruck, die Ärzteschaft ist tatkräftig dabei, mit der privaten Krankenversicherung einen Vorschlag zu erarbeiten. Soweit ich das mitbekomme, ist man auch schon relativ weit. Und ich kann die Ärzteschaft nur ermuntern, etwas vorzulegen. Nicht alles, was heute Leistungsstandard ist, ist in der aktuellen GOÄ beschrieben. Für alle Debatten rund um die Honorierung wäre eine neue GOÄ eine gute Basis für die weitere Diskussion.

Es soll eine Kommission geben, die ergebnisoffen an einem modernen Vergütungssystem arbeitet bis 2019. Wie wollen Sie das damit angelegte Entscheidungsvakuum verhindern?

Spahn: Wir werden die wissenschaftliche Kommission zeitnah besetzen. Es geht darum, dass Experten, die nicht in den täglichen Honorarstreit involviert sind, einmal einen Schritt zurücktreten, um das Gesamtsystem in den Blick zu nehmen.

Auftrag dieser Kommission ist, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Vergütung von privat und gesetzlich erbrachten ärztlichen Leistungen vereinheitlicht werden kann. Dieses Ziel ist zwar umstritten. Aber auf dem Weg erhalten wir im ersten Schritt eine Analyse der Situation.

Und dann muss die Politik entscheiden. Aber sie kann das dann auf einer anderen Basis als heute. Heute ist ja Vieles bei diesem Thema eher gefühlte Empirie.

Wer soll in der Kommission sein?

Spahn: Das verrate ich Ihnen bei Gelegenheit.

Auf der einen Seite wird an der GOÄ gearbeitet, auf der anderen gibt es diese Kommission. Müssen die, die jetzt an der GOÄ arbeiten, nicht fürchten, dass die Kommission zu ganz anderen Ergebnissen kommt?

Spahn: Diese Kommission entscheidet nicht. Sie macht Vorschläge.

Würden Sie denn soweit gehen, dass das, was in der GOÄ konsentiert ist, nur eine Interimslösung ist, die dann von etwas anderem abgelöst wird?

Spahn: Ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, ob und was aus den Ergebnissen der Kommission folgt.

Eine überarbeitete GOÄ, die ja auch schon weit ist, ist dann natürlich ein wichtiger Baustein in der Debatte. Ich kann aber nicht versprechen, dass die dann auch so kommt. Ein Gesundheitsminister Spahn ist ja nicht alleine auf der Welt. Man muss in einer Koalition für Änderungen an der Honorierung auch eine Mehrheit haben.

Stichwort sektorübergreifende Versorgung: Gleiches Geld für gleiche Leistung könnte ja eines der Ergebnisse sein…

Spahn: Ausdrücklich ja! Wo wir Leistungen heute schon sektorenübergreifend definiert haben, muss das Ziel sein, eine einheitliche sektorübergreifende Vergütungsstruktur zu bekommen. Leider dauert es immer sehr lange, bis etwas passiert. Zweitmeinungsverfahren, die EBM-Ziffer zum Erstkontakt, die ASV-Vergütungsregeln – das alles ist schnell ins Gesetz geschrieben, es konkret zu machen, ist superkomplex.

Mein Eindruck ist, dass sich im Verhältnis der Sektoren viel verändert hat. Alle spüren, dass eine bessere Zusammenarbeit auch die Versorgung der Patienten verbessert.

Und das auszuweiten, ist ein Thema für die Bund-Länder-Fraktions-Arbeitsgruppe.

Diese AG soll bis 2020 Ergebnisse vorlegen. Dann kommt das nächste Wahljahr…

Spahn: Das heißt ja spätestens…

Wir haben noch nie erlebt, dass eine AG sechs Monate früher geliefert hat…

Spahn: Dann sollte das diesmal anders sein… Wir wollen keine Arbeitsgruppe installieren, die nur alle sechs Monate tagt. Sie soll schnell und effizient ins Thema einsteigen. Ich möchte nicht, dass wir dort Papiere produzieren, in denen wir wortreich niederlegen, warum sektorenübergreifende Versorgung eigentlich gut ist. Ich möchte vielmehr konkrete Vorschläge entwickeln, die zu Gesetzesänderungen führen. Das fängt bei der Bedarfsplanung an. Das berührt die Honorierung. Und reicht möglicherweise bis zur Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe.

Jens Spahn: "Wenn wir wollen, dass unser Gesundheitssystem nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, dann müssen wir darauf reagieren."

Jens Spahn: "Wenn wir wollen, dass unser Gesundheitssystem nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, dann müssen wir darauf reagieren."

© Illian

Wir sollten die Erwartungen aber auch nicht zu hoch schrauben. Die Arbeitsgruppe wird keine eierlegende Wollmilchsau erfinden. Aber wenn wir am Ende einen Katalog von Vorschlägen bekommen, mit denen wir etwas konkret in der Versorgung verbessern können, dann ist viel erreicht.

Kann man über sektorenübergreifende Zusammenarbeit auch die Arztarbeitszeit besser nutzen?

Spahn: Das wäre ideal. Wir haben im Moment gerade in unterversorgten Regionen Sicherstellungszuschläge für Krankenhäuser, und wir geben den KVen Möglichkeiten über den Strukturfonds etwas zu machen.

Nur: Das läuft immer parallel und nebeneinander her, und nicht verzahnt. Ich finde klug zu starten in den Bereichen, wo Zusammenarbeit offenkundig am meisten Sinn ergibt. Das sind nun einmal unterversorgte Bereiche. Das sind gute Experimentierfelder. Da sieht jeder: Hier müssen wir etwas tun.

Stutzig gemacht hat uns eine Passage im Koalitionsvertrag, dass in strukturschwachen Gebieten die Zulassungssperren entfallen sollen, das gibt es doch heute schon, oder?

Spahn: Jein. In unterversorgten Gebieten gibt es das in der Tat schon heute. Wir spüren alle, dass die Bedarfsplanung, wie sie heute ist, nur ein Anhaltspunkt sein kann, aber nicht besonders zielgenau. Dort sollen sich auch sozioökonomische Gegebenheiten wiederfinden. Es gibt Unterschiede im Behandlungsbedarf zwischen Regionen im Ruhrgebiet und am Starnberger See.

Es gibt ja auch Ballungszentren, wo wir Überversorgung haben.

Spahn: Auch da gibt es beides. Ich habe das Ruhrgebiet erwähnt. Nehmen Sie das Beispiel Essen: Dort leben im Norden der Stadt die Kinder, und im Süden die Kinderärzte. Sie haben aber Recht: Es gibt natürlich auch überversorgte Gebiete, mit Versorgungsgraden von bis zu 200 Prozent.

Denken Sie daran, dort Zulassungssperren zu exekutieren?

Spahn: Es gibt ja bereits die Möglichkeiten, Praxen in überversorgten Gebieten aufzukaufen. Ich finde, wir sollten einmal darüber nachdenken, dass das nicht nur zu Lasten der KVen geht. Daran sollten sich auch die Krankenkassen beteiligen. Ich erwarte, dass dieses Instrument in weit überversorgten Gebieten auch genutzt wird.

Noch einmal zurück zu den strukturschwachen Gebieten. Setzen Sie dort auf finanzielle Anreize?

Spahn: Wenn Sie heute in den ländlichen Raum gehen, sagen Ihnen die Ärzte heute schon, dass man dort gut verdienen kann. Das Geld ist dort nicht das Hauptthema. Da spielen auch Strukturfragen mit: Will ich alleine, selbstständig in einer Praxis sein, zum Beispiel. Wie oft habe ich Bereitschaftsdienst? Mit wem kann ich zusammenarbeiten? Was bietet die Gegend der Familie?

Ich bin sehr dafür, finanzielle Anreize zu setzen. Mein Eindruck ist nur: Geld alleine löst die Frage nicht, ob Ärzte sagen: Ich gehe aufs Land.

Eine Verständnisfrage zur sektorenübergreifenden Versorgung. Stichwort: Notfallzentralen an Krankenhäusern: Wie soll denn die gemeinsame Sicherstellung von KVen als Körperschaften und Landeskrankenhausgesellschaften als eher machtlose Vereine funktionieren?

Spahn: Strukturprobleme in der Notfallversorgung zu lösen ist eine der größten Herausforderungen, die wir haben. Setzen Sie sich am Wochenende einmal in eine Notfallaufnahme eines Krankenhauses. Da gibt es wirkliche Notfälle. Da gibt es aber auch Patienten, die dort nichts zu suchen haben. Die Unterscheidung ambulanter Bereitschaftsdienst und Notfallambulanz im Krankenhaus zu erklären, fällt selbst Fachleuten schwer. Die Bürger haben davon meist keine Vorstellung. Mein Landrat berichtet mir, die 112 wird immer häufiger auch bei Bagatellen genutzt.

Es braucht ein rundes Konzept vom ärztlichen Bereitschaftsdienst bis zum Notfall, für den die 112 gilt. Da sind Bund, Länder und die Kommunen gefragt. Das macht es noch komplizierter. Aber: Alle drei Ebenen sagen, wir haben ein Problem. Da möchte ich, dass wir uns grundsätzlich anschauen, wie wir da besser steuern. Vielleicht müssen wir auch neue Strukturen schaffen, die nicht in den Sektoren verhaftet sind. Noch habe ich keine abschließende Lösung dafür.

Geht eine gemeinsame Sicherstellung der vorgeschlagenen Partner?

Spahn: Ja klar geht das. Wenn man will, geht alles. Es müssen nur alle bereit sein, ihren Teil zur Lösung beizutragen. Wie weit akzeptieren zum Beispiel Patienten, dass jemand am Notfalltelefon entscheidet, wer sie behandelt, ob sie ins Krankenhaus müssen oder am nächsten Tag zum Hausarzt. Klar ist jedenfalls: So wie die Notfallversorgung heute geregelt ist, ist das ziemlich unbefriedigend. Das möchte ich ändern. Im Sinne der Patienten - und der Ärzte.

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