Bildung am wichtigsten
Diese zwölf Faktoren können das Demenzrisiko senken
Mit mehr Bildung ließen sich Demenzerkrankungen verhindern oder verzögern. Ein gutes Gehör und eine gute Stimmung wirken wohl ebenfalls protektiv, auch gute Luft und wenig Alkohol. Ein Lancet-Report nennt zwölf vermeidbare Demenzrisiken.
Veröffentlicht:London. Wirksame Therapien gegen eine Demenz sind noch immer nicht in Sicht, aber epidemiologische Studien deuten darauf, dass sich ein großer Teil der Demenzerkrankungen durch einen gesunden Lebensstil, gute Bildung, viel soziale Aktivität und eine gute medizinische Versorgung vermeiden ließe. Dass es sich dabei nicht nur um statistische Assoziationen handelt, wird anhand der altersadjustiert sinkenden Demenzinzidenz in Industrieländern deutlich, die mit einer Verzögerung von rund 20 Jahre auf einen deutlichen Rückgang der Rate kardiovaskulärer Ereignisse folgt.
Allerdings wird dieser Effekt absolut durch die steigende Zahl älterer Menschen mehr als wettgemacht. Aus solchen Gründen hat die Zeitschrift „The Lancet“ vor einigen Jahren eine Expertenkommission beauftragt, nach modifizierbaren Risikofaktoren zu suchen, die bei der Demenzprävention besonders wichtig sind. Der 2017 erstmals veröffentlichte Report soll damit auch als Entscheidungshilfe für die Politik dienen.
Drei neue Faktoren
Damals wurden auf Basis von Literaturanalysen neun modifizierbare Faktoren in unterschiedlichen Lebensphasen identifiziert und quantifiziert. Danach hat Bildung mit den größten Einfluss auf das spätere Demenzrisiko. Im mittleren Lebensalter sind das Hörvermögen, der Blutdruck und das Körpergewicht relevant, später Rauchen, Stimmung, soziale und körperliche Aktivitäten sowie Diabetes.
Neu aufgenommen in die Liste haben Demenzforscher um Professor Gill Livingston vom University College in London den Alkoholkonsum, die Luftqualität sowie Kopfverletzungen. Zusammen erklären diese zwölf Faktoren nach den Berechnungen der Experten 40 Prozent aller Demenzerkrankungen. Vorgestellt wurden die Resultate der Analyse nun auf der virtuell stattfindenden Alzheimer’s Association International Conference (AAIC) – zeitgleich mit der Publikation im „Lancet“ (Lancet 2020; online 30. Juli).
Das sind die 12 Demenz-Faktoren im Einzelnen
Bildung ist der einzige relevante Faktor im Alter von unter 45 Jahren. Ein geringes Bildungsniveau erklärt basierend auf den vorhandenen Daten weltweit rund sieben Prozent aller Demenzerkrankungen. Ein höheres Gewicht hat nur noch ein Hörverlust, doch dieser lässt sich kaum politisch beeinflussen. „Die Politik sollte daher vor allem anderen auf die Bildung von Kindern setzen“, schreiben die Autoren des Reports. Ob jemand im Alter eine Demenz entwickelt, hängt also entscheidend davon ab, ob er / sie in der Schule etwas gelernt hat. Geringe Bildung geht mit einem um 60 Prozent erhöhten Demenzrisiko einher, da ein geringes Bildungsniveau aber weit verbreitet ist, wiegt dieser Faktor mehr als die meisten anderen.
Schwerhörigkeit ist der wichtigste Risikofaktor im mittleren Lebensalter. Tritt sie bei 45- bis 65-Jährigen auf, ist das Risiko für eine Demenz im Alter verdoppelt. Insgesamt lassen sich nach den Berechnungen der Forscher um Livingston etwa acht Prozent aller Demenzerkrankungen auf Schwerhörigkeit zurückführen. Hörgeräte könnten Abhilfe schaffen: Langzeitstudien deuten darauf, dass Menschen mit Hörproblemen kein erhöhtes Demenzrisiko haben, wenn sie Hörgeräte tragen. Offenbar sind vor allem Folgen der Schwerhörigkeit wie soziale Isolation und Kommunikationsprobleme für das Demenzrisiko entscheidend.
Schädel-Hirn-Traumata (SHT) wurden in den vergangenen Jahren zunehmend als Risikofaktor erkannt und daher neu in die Liste aufgenommen. Ein SHT im mittleren Alter geht ebenfalls mit einem rund verdoppelten Risiko für eine Demenz einher, global lassen sich 3,4 Prozent aller Demenzfälle auf ein SHT zurückführen. Insgesamt steigt das Demenzrisiko mit der Zahl und der Schwere der SHT. Geht ein SHT mit Bewusstlosigkeit einher, ist das Risiko in etwa vervierfacht.
Ein Blutdruck über 140 mmHg systolisch im mittleren Alter erhöht das Demenzrisiko den Daten zufolge um 60 Prozent. Rund zwei Prozent aller Demenzfälle lassen sich darauf zurückführen. Eine Hypertonie geht mit einer beschleunigten Hirnalterung einher, was sich über einen verstärkten Hirnvolumenverlust, gesteigerte Amyloiddeposition und eine Schädigung der weißen Substanz bemerkbar macht. Sowohl Beobachtungsstudien als auch randomisiert-kontrollierte Studien wie SPRINT MIND deuten auf ein reduziertes Demenzrisiko bei medikamentös gut eingestellten Hypertonikern.
Übermäßiger Alkoholkonsum (mehr als 24 Gramm täglich) geht in der Summe der verfügbaren Studien mit einem um 20 Prozent erhöhten Demenzrisiko einher und erklärt 0,8 Prozent aller Demenzerkrankungen. Dass viel Alkohol dem Gehirn schadet, ist kein Geheimnis, die Frage ist hier eher, wo die Grenze für einen Schaden liegt. Einzelne Studien kommen zu recht widersprüchlichen Angaben, manche legen sogar ein reduziertes Demenzrisiko bei geringem Konsum nahe. Mit einem halben Liter Bier am Tag (20 Gramm Alkohol bei fünf Volumenprozenten) dürfte man gerade noch auf der sicheren Seite sein.
Adipositas geht mit einem um 60 Prozent erhöhten Demenzrisiko einher, dennoch sind nach Auffassung der Studienautoren nur 0,7 Prozent aller Demenzfälle auf ein stark erhöhtes Gewicht zurückzuführen. Allerdings legen sie eine Adipositasprävalenz von nur 3,4 Prozent zugrunde. In Ländern wie den USA mit einer mehr als zehnfach höheren Prävalenz kommt diesem Faktor jedoch ein ganz anderes Gewicht zu. Er dürfte dort ähnlich zu Buche schlagen wie mangelnde Bildung. Studien deuten auf eine bessere Hirnleistung bei Adipösen nach Gewichtsverlust. Ob sich das in ein reduziertes Demenzrisiko übersetzen lässt, ist aber noch unklar.
Rauchen ist im Alter über 65 Jahren der wichtigste Demenzrisikofaktor und geht mit einem um 60 Prozent erhöhten Risiko einher. Weltweit rauchen rund 27 Prozent der Menschen in diesem Alter, auf dieser Basis lassen sich 5,2 Prozent aller Demenzerkrankungen auf die Freude am Tabakkonsum zurückführen. Der Raucheranteil sinkt zumindest in den Industrieländern, was dort die Bedeutung dieses Faktors schmälert. Studien zufolge nützt auch noch der Tabakverzicht im Alter: Das Demenzrisiko ist dann deutlich geringer als beim Weiterqualmen.
Depressionen und psychischer Stress im Alter scheinen das Demenzrisiko zu verdoppeln. Insgesamt lassen sich 3,9 Prozent aller Demenzerkrankungen auf diesen Faktor zurückführen. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer konnten in Tierexperimenten die Amyloidablagerungen reduzieren, einzelne Studien deuten zudem auf eine normalisierte Demenzinzidenz bei medikamentös behandelten Depressiven, allerdings wird die Evidenz hier als recht gering beurteilt.
Soziale Isolation im Alter wird mit einem um 60 Prozent erhöhten Demenzrisiko assoziiert, global sorgt dieser Faktor nach den Berechnungen der Experten aus London für 3,5 Prozent aller Demenzerkrankungen. Studien haben ein deutlich höheres Demenzrisiko für lebenslange Singles (plus 40 Prozent) und Verwitwete (plus 20 Prozent) ergeben. Generell wird davon ausgegangen, dass Verheiratete mehr soziale Kontakte haben. Dieser Faktor ist vor allem für Frauen relevant, die ihre Ehemänner oft um viele Jahre überleben. Allerdings kann soziale Isolation auch die Folge einer beginnenden Demenz sein. Studien deuten auf eine bessere Hirnfunktion durch soziale Interventionen bei Älteren, Langzeitstudien dazu liegen jedoch nicht vor.
Luftverschmutzung scheint das alternde Gehirn zusätzlich zu belasten. Hierzu sind in den vergangenen Jahren viele neue Studien erschienen. Vor allem für Feinstaub und Stickoxide wird ein Zusammenhang mit Demenzerkrankungen gesehen, in Tiermodellen ließ sich damit die Amyloiddeposition beschleunigen. Die Risikoerhöhung liegt den Daten zufolge zwar nur bei rund zehn Prozent in belasteten Gebieten, da aber rund 75 Prozent der Weltbevölkerung in solchen Regionen leben, werden 2,3 Prozent aller Demenzerkrankungen auf schlechte Luft zurückgeführt.
Körperliche Inaktivität im Alter hat sich in vielen Langzeitstudien als Risikofaktor herauskristallisiert. Couchpotatoes haben danach ein um rund 40 Prozent erhöhtes Demenzrisiko. Weltweit sind 1,6 Prozent der Demenzfälle auf zu wenig Bewegung zurückzuführen – bei einer Inaktiven-Prävalenz von 18 Prozent. Auch dieser Faktor dürfte in Industrieländern mit einem hohen Anteil komplett inaktiver Menschen ein stärkeres Gewicht haben. Aus einigen kontrollierten Studien gibt es Hinweise, dass regelmäßige körperliche Aktivität die Hirnleistung verbessert und eine Demenz verzögert, die Evidenz ist aber eher gering.
Ein Altersdiabetes geht mit einem um 50 Prozent erhöhten Demenzrisiko einher, bei einer Prävalenz von rund sechs Prozent lassen sich rund 1,1 Prozent aller Demenzerkrankungen darauf zurückführen. In Deutschland haben rund zehn Prozent aller Menschen einen Diabetes, bei den über 80-Jährigen sind es mehr als ein Drittel – entsprechend dürfte dieser Risikofaktor bei uns größere Bedeutung haben. Relevant sind auch Dauer und Schwere des Diabetes, vermutet wird, dass Hypoglykämien und Störungen des Insulinstoffwechsels im Gehirn die Alzheimerpathologie beschleunigen. Studiendaten zur Risikoreduktion durch Antidiabetika liefern bislang recht widersprüchliche Resultate.
Fazit: Um die Demenzinzidenz weiter zu senken, wären eine bessere Bildung, eine stärkere Verbreitung von Hörgeräten sowie mehr soziale Aktivitäten im Alter nötig. In Industrieländern sind vor allem auch kardiovaskuläre Risikofaktoren bedeutsam – diese kommen im Lancet-Report etwas zu kurz. Letztlich unterscheidet sich die Prävalenz einzelner Risikofaktoren deutlich von Land zu Land – und damit auch deren Beitrag zu den Demenzerkrankungen.