Überraschende Befunde
Alzheimer auch ohne Amyloid?
Wer erste Zeichen einer Neurodegeneration aufweist, entwickelt in den folgenden Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Alzheimerdemenz - auch wenn keine übermäßigen Amyloid-Ablagerungen nachweisbar sind.
Veröffentlicht:BERGAMO. Nach dem derzeit favorisierten Modell der Alzheimerdemenz beginnt das Gehirn zehn bis 15 Jahre vor Krankheitsausbruch massiv Beta-Amyloid abzulagern, etwa fünf Jahre vor der Diagnose kommt dann die Neurodegeneration in Schwung: In den Nervenzellen verklumpen nun Tau-Aggregate, der Hippocampus schrumpft, die Hirnstoffwechsel verlangsamt sich.
In dieser Phase machen sich in der Regel die ersten kognitiven Defizite bemerkbar. Doch das Modell hat seine Tücken.
Noch immer ist unklar, weshalb einige Menschen trotz hoher Amyloidlast bis ins hohe Alter kognitiv gesund bleiben, während andere ohne nennenswerte Amyloid-Anhäufung im Gehirn eine klinisch definierte Alzheimerdemenz entwickeln.
Zwar wird angenommen, dass Amyloid die Neurodegeneration triggert, dies scheint aber nicht bei allen Menschen gleichermaßen der Fall zu sein. So gibt es offenkundig noch andere Trigger für den zerstörerischen Prozess im Gehirn.
Für die Frage, ob jemand mit kognitiven Defiziten eine Demenz entwickelt, könnten also Neurodegenerationsmarker aufschlussreicher sein als Beta-Amyloid.
Defizite ohne Amyloid-Ablagerung
In diese Richtung deutet auch eine Untersuchung von Wissenschaftlern um Dr. Anna Caroli vom Istituto di Ricerche Farmacologiche Mario Negri in Bergamo (Neurology 2015, online 7. Januar).
Die Forscher hatten bei 201 Patienten mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen (mild cognitive impairment, MCI) die Beta-Amyloid-Konzentration im Liquor bestimmt. Zugleich versuchten sie per Bildgebung das Ausmaß der Neurodegeneration zu ermitteln.
Als Marker verwendeten sie hierfür das Hippocampus-Volumen und den Hirnstoffwechsel, gemessen per FDG-PET. Wurden bestimmte Schwellenwerte bei einem der beiden Marker unterschritten, ging das Team um Caroli von einer Neurodegeneration aus.
Anschließend teilten sie die MCI-Patienten in vier Gruppen ein: Solche ohne Amyloid-Pathologie und ohne Neurodegeneration (A-N-), solche mit Amyloid-Ablagerungen, aber ohne Neurodegeneration (A+N-), solche mit Neurodegeneration aber ohne auffällige Liquor-Amyloidwerte (A-N+) und schließlich solche, bei denen beide Marker auffällig waren (A+N+).
Die Teilnehmer wurden nun bis zu sechs Jahre nachuntersucht (im Schnitt etwa zweieinhalb Jahre). Dabei schauten die Forscher, bei wie vielen der kognitive Abbau voranschritt.
Als Progression definiert wurde ein Rückgang beim Mini-Mental-Status-Test (MMST) um drei Punkte, ein MMST-Wert unter 24 Punkten oder eine klinisch manifeste Demenz.
MCI-Patienten mit Amyloid-Pathologie und auffälligen Neurodegenerationsmarken (A+N+) zeigten die höchste Progressionsrate, auch war diese Kombination am häufigsten anzutreffen.
85 Patienten gehörten zu dieser Gruppe, davon kam es nach im Schnitt zwei Jahren bei 71 Prozent zur Progression des kognitiven Abbaus. Die zweithöchste Progressionsrate (54 Prozent) wiesen die 34 Patienten ohne Amyloid, aber mit Neurodegeneration auf.
Hingegen verschlechterte sich die Kognition nur bei 34 Prozent der 41 Patienten mit Amyloid aber ohne Neurodegeneration (A+N-) sowie bei lediglich 11 Prozent der 41 Patienten ohne auffällige Biomarker (A-N-).
Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen mit Neurodegenration und der A-N--Gruppe waren jeweils statistisch signifikant.
Neurodegenerationsmarker relevant
Zu einer deutlichen Progression beim kognitiven Abbau innerhalb von zwei bis drei Jahren kam es also fast nur, wenn Neurodegenerationsmarker auffällig waren. Eine Amyloid-Pathologie scheint den Prozess zu beschleunigen, deutet für sich genommen aber noch nicht auf ein erhöhtes Progressionsrisiko.
Zumindest nach diesen Daten ist bei MCI die Neurodegeneration das entscheidende Kriterium für den kognitiven Abbau.Nun könnte man vermuten, dass die MCI-Patienten ohne Amyloid-Pathologie auch nicht Morbus Alzheimer, sondern eine andere Demenzform entwickeln.
Tatsächlich wurden in der A-N+-Gruppe später bei fünf Patienten eine frontotemporale Demenz (FTD) und bei zwei eine Lewy-Körperchen-Demenz (LBD) diagnostiziert. Von den 19 Demenzpatienten dieser Gruppe stellten die Ärzte jedoch bei der Mehrheit nach klinischen Kriterien einen Morbus Alzheimer fest.
Und unter den neun Patienten der A-N-Gruppe, die zum Studienende eine Demenz entwickelten hatten, fanden sich immerhin vier mit Alzheimerdiagnosen, die übrigen hatten eine FTD. Dagegen konvertierten die Gruppen mit Amyloid-Pathologie weitgehend geschlossen in eine Alzheimerdemenz, nur bei einem Patienten wurde eine FTD diagnostiziert.
Aus der Arbeit ergeben sich mehrere interessante Schlussfolgerungen: So scheinen fast alle Patienten mit Amyloid-Pathologie auf eine Alzheimerdemenz zuzusteuern, die sich dann zu manifestieren beginnt, sobald die Neurodegeneration in Schwung kommt.
Allerdings entwickeln von den MCI-Patienten ohne Amyloid-Pathologie ebenfalls die meisten eine Alzheimerdemenz, sobald sie auffällige Neurodegenerationsmarker zeigen, und diese Kombination ist nicht selten: In der italienischen Studie gehörten immerhin 17 Prozent der MCI-Patienten zur A-N+-Gruppe.
Ist eine Demenz ohne Amyloid eine Alzheimerdemenz?
Für eine Alzheimer-bedingte Neurodegeneration scheinen Beta-Amyloid-Klumpen im Hirn bei vielen Patienten nicht notwendig zu sein - wenn man davon ausgeht, dass die in der Studie gemessenen Liquor-Amyloidwerte auch zuverlässig die Amyloidlast wiedergeben.
Aus klinischer Sicht wäre es daher eher interessant, bei MCI-Patienten nach Neurodegenerationsmarkern zu schauen, um das Demenzrisiko abzuschätzen.
So war die Zeit bis zur Progression in der Studie umso kürzer, je schwächer der Stoffwechsel im FDG-PET erschien, dagegen sagten Liquor-Amyloid-Spiegel wenig über das Progressionsrisiko aus.
Forscher werden jedoch weiter diskutieren, ob es sich bei einer Demenz ohne Amyloid überhaupt um eine Alzheimerdemenz handeln kann oder ob dahinter nicht ein Sammelsurium unterschiedlicher pathologischer Prozesse steckt, die sich klinisch wie eine Alzheimerdemenz bemerkbar machen.
Letztendlich zielt das aber auf die Frage, ob man Morbus Alzheimer primär klinisch oder pathologisch definieren will.