Offener Brief an Minister
Die alleinige Fokussierung auf Zucker ist falsch
In einem „heute-show spezial“ zum Thema Zucker kamen Karl Lauterbach, Cem Özdemir und unser Gastautor Professor Stephan Martin zu Wort. In einem offenen Brief erklärt der Diabetologe nun den Ministern, wie Gewicht, Glukose und Insulin zusammenhängen.
Veröffentlicht:Sehr geehrter Herr Minister Özdemir, sehr geehrter Herr Minister Lauterbach,
bei der Sendung der „heute-show spezial“ vom 25. August 2023 hatte wir einen gemeinsamen Auftritt: Sie als Minister, ich als Experte. Da wir aufgrund der zeitlich versetzten Aufnahmen nicht gemeinsam miteinander sprechen konnten, möchte ich gerne den Inhalt der Sendung und die von Ihnen beiden getätigten Aussagen als Experte reflektieren.
Ich gebe Ihnen, lieber Herr Kollege Lauterbach, hinsichtlich der durch Adipositas entstehenden medizinischen Probleme und Kosten komplett Recht. Auch Ihnen, lieber Herr Özdemir, stimme ich zu, dass Zucker in der Ernährung eine Ursache für Adipositas darstellt. Doch haben Sie beide sich einmal die Frage gestellt, warum Zucker überhaupt das Gewicht ansteigen lässt?
Insulin blockiert die Fettverbrennung
Zusammen mit anderen Wissenschaftlern aus dem Bereich der Diabetesforschung haben Professor Dr. Hubert Kolb, Professor Dr. Michael Stumvoll, Professor Dr. Werner Kramer, Dr. Kerstin Kempf und ich im Jahr 2018 eine Übersichtsarbeit mit dem Titel „Insulin translates unfavourable lifestyle into obesity“ (BMC Med 2018; 16: 232) publiziert: Insulin wird in der Regel nur als Hormon angesehen, das den Blutzucker senkt.
Jedoch hat Insulin eine weitere Wirkung: Es blockiert die Fettverbrennung und fördert die Fettablagerung. Dies kann man bei Kindern erkennen, die einen Insulinmangeldiabetes (Typ-1-Diabetes) entwickeln, denn die verspüren meist als erstes Symptom der Erkrankung eine ungewollte Gewichtsabnahme.
Die Ursache dafür ist, dass durch das Fehlen von Insulin die Fettverbrennung ungebremst abläuft. Bei Adipositas und Typ-2-Diabetes (T2D) besteht das Gegenteil: Diese Personen produzieren in der Regel übermäßige Mengen an Insulin, das dann eine Gewichtsabnahme blockiert.
Das ist auch der Grund, warum Zucker zu Übergewicht und Adipositas führt, denn Zucker löst eine Insulinproduktion aus. Genauer betrachtet ist es beim Haushaltszucker, der aus Glukose und Fruktose besteht, die Glukose verantwortlich für die Insulinauslösung.
Warnung vor Fetten – ein Wissenschaftsbetrug
Und hier haben wir auch das Problem, das in der „heute-show spezial“ nur am Rande angesprochen werden konnte: Glukose haben wir nicht nur im Haushaltszucker, sondern auch im Milchzucker. Anders ausgedrückt: Ob Sie ein Glas Milch trinken oder ein halbes Glas Cola spielt für den Glukosegehalt und die Auslösung von Insulin keine Rolle.
Es kommt aber noch schlimmer und da kommen wir zu den von Ihnen, lieber Herr Minister Özdemir, und die von Ihnen als Schwabe so geliebten Maultaschen.
Solche Nudelgerichte, wie auch Brot, Reis oder Kartoffeln enthalten Stärke, die aus vielen Molekülen Glukose besteht und sogar schneller Insulin auslöst als Zucker! Falls Sie diese Expertenaussage bezweifeln, so vergleichen Sie doch einfach einmal den glykämischen Index von Haushaltszucker mit 65 mit dem von Kartoffelpüree mit 85! Und die aktuell gehypte Hafermilch hat in 160 ml exakt so viel Glukose, wie in 200 ml Cola enthalten sind.
Daher ist die alleinige Fokussierung auf Zucker als dick machendes Nahrungsmittel nicht nur falsch, sondern in Hinblick auf die Adipositas-Epidemie sogar gefährlich. Die Lutz van der Horst und Fabian Köster angelegten Glukosesensoren haben bei beiden extreme Ausschläge produziert, wenn sie stärkehaltige Produkte gegessen haben.
Empfehlung, Fette zu meiden, stammt aus dem Jahr 1977
Eine weitere Aussage in der „heute-show spezial“ von Ihnen, lieber Herr Özdemir, bezog sich auf Fett. Dies trage aufgrund des hohen Kaloriengehaltes zur Adipositas-Entwicklung bei. Es sei angemerkt, dass eine Atkins-Diät, die sehr fettreich ist, bei einer Kalorienanzahl von 3.500 kcal zu einem erheblichen Gewichtsverlust führt. Diese Ernährungsform, die man sicher nicht lange durchhält, enthält keine Insulin-auslösenden Nahrungsmittel. Auch hier lohnt es sich, das Thema etwas genauer zu betrachten.
Die Empfehlung, Fette, insbesondere gesättigte Fette in der Nahrung, zu meiden, stammt aus dem Jahr 1977. Damals hat der amerikanische Kongress aufgrund steigender Zahlen an Herz-Kreislauf-Ereignissen wie Herzinfarkt und Schlaganfall die Warnung vor Fetten ausgesprochen. Heute wissen wir, dass diese Empfehlungen falsch waren und zum Teil auf Wissenschaftsbetrug (BMJ 2016; 353: i1246) oder unter Einfluss der Zuckerindustrie (JAMA Intern Med 2016; 176: 1680–5) entstanden sind.
Adipositas ein großes Geschäft
Zumindest hat vor zwei Jahren das American College of Cardiology in einem State-of-the-Art-Review vor der Verteufelung insbesondere gesättigter Fette gewarnt (JACC 2020; 76: 844–57). Die Studien CORDIOPREV (Lancet 2022; 399: 1876–85) und PREDIMED (N Engl J Med. 2018; 378: 2441–2) haben in randomisierten Interventionen sogar für den hohen Konsum an Olivenöl einen schützenden Effekt auf die kardiovaskulären Ereignisse zeigen können.
Die Ernährungsempfehlung, die auch schon damals höchst umstritten war, muss man heute wohl als „American Fake News“ betrachten. Zusammenfassend helfen wir Menschen mit Übergewicht und Adipositas nicht, wenn wir ihnen raten, Zucker und Fette zu meiden.
Wir haben am Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum (Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf) den in der Übersichtsarbeit „Insulin translates unfavourable lifestyle into obesity“ vorgeschlagenen Weg, Gewichtsabnahme durch die Reduktion der körpereigenen Insulinspiegel zu erreichen, in verschiedenen randomisierten Studien nachgewiesen.
In der kürzlich publizierten „Düsseldorfer Brotstudie“ haben wir mit einem kontrollierten, randomisierten und doppelblinden Studienansatz zeigen können, dass der Austausch von einem Roggenmischbrot, das entgegen den Erwartungen eine erhebliche Insulinproduktion auslöst, durch ein „Low-Insulin-Brot“ zu einer mittleren Gewichtsabnahme von mehr als 2 kg führt (Nutrients 2023; 15: 1301).
Ein umfassendes Programm, bei dem die Teilnehmer in verschiedenen Schulungen mit der „Low-Insulin-Ernährung“ vertraut gemacht wurden, hat zu einer Gewichtsabnahme im Mittel zwischen 8–10 kg nach einem Jahr geführt (Nutrients 2020; 12: 3004).
Mit Low-Insulin-Programm erfolgreich bei Behandlung des T2D
Der Versuch, das Programm durch eine Zertifizierung durch die Zentralstelle der Krankenkassen auch einer breiten Bevölkerungsgruppe zugänglich zu machen, ist kläglich gescheitert. Obwohl wir auch hier eine randomisierte kontrollierte Studie vorlegen konnten, wurde es abgelehnt: Wir hätten in dem Programm keinen Low-Fat-Ansatz genutzt und zusätzlich in den ersten Wochen ein Formuladiät-Programm verwendet; beides entspricht nicht den Vorgaben der Krankenkasse! Forschung und Wissenschaft scheinen bei den Krankenkassen anscheinend keine Rolle zu spielen!
Auch sei erwähnt, dass wir in Düsseldorf mit dem Low-Insulin-Programm auch sehr erfolgreich bei der Behandlung des T2D sind: Im letzten Jahr habe ich bei mehr Patienten mit T2D häufiger Insulin absetzen als ansetzen können. Auch das haben wir mit einer randomisierten kontrollierten Studie nachweisen können (Diabetes Care 2017; 40: 863-71).
Das ist natürlich auch nicht im Sinne der Krankenkassen, bei denen die Ausgleichzahlungen aus dem Morbi-RSA in Höhe von 2.240 Euro für die Insulintherapie entfallen. Dies zeigt, dass nicht nur die Lebensmittel- oder Pharmaindustrie von Adipositas profitieren. Adipositas ist halt ein großes Geschäft.
Einladung zu einer Fortbildung
Da wir uns bei den Dreharbeiten zu unserer „gemeinsamen Sendung“ nicht haben kennenlernen können, möchte ich Sie beide gerne zusammen in das Westdeutsche Diabetes- und Gesundheitszentrum zu einer Fortbildung einladen. Sicher stellen Lutz van der Horst und Fabian Köster ihre Glukoseverläufe für gemeinsame Detailanalysen zur Verfügung.
Auch würde ich Ihnen die zuvor erwähnten Studien im Detail vorstellen und würde mich freuen, wenn es uns zusammen gelingen könnte, Betroffenen auch neue und wissenschaftlich bewiesene Möglichkeiten zu geben, das Gewicht zu reduzieren und sich vor Erkrankungen zu schützen oder diese zu bekämpfen.
Liebe Grüße, Ihr Stephan Martin