Seltene Krankheiten
"Dr. House" auf Spurensuche
Professor Jürgen Schäfer gilt als der "deutsche Dr. House": Zusammen mit seinem Marburger Team löst er medizinische Rätsel. Welche, verrät er im Interview mit der "Ärzte Zeitung".
Veröffentlicht:Professor Jürgen Schäfer
Aktuelle Position: Leiter des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE) am Universitätsklinikum Marburg
Auszeichnung: 2010 wurde Schäfer mit dem Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre ausgezeichnet.
Ärzte Zeitung: Herr Professor Schäfer, wie oft können Sie Rat suchenden Patienten oder ihren Eltern sagen, was dem Betroffenen fehlt?
Professor Jürgen Schäfer: Bei Weitem nicht so oft, wie wir uns das wünschen. Denn obwohl wir uns sehr viel Mühe geben, bekommen wir nur etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Fälle gelöst.
Die meisten unserer Patienten haben vorab mindestens vier bis fünf unterschiedliche Fachärzte gesehen und mehrere stationäre Aufenthalte hinter sich. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu finden, an das die Kollegen im Vorfeld nicht schon gedacht haben, wird da recht gering.
Welches war Ihr schwierigster Fall?
Schäfer: Ein Fall, der unser ganzes Team über Monate hinweg beschäftigte, ist der eines Patienten mit seit Jahrzehnten bestehender "periodischer Lähmung". Die Lähmungen traten anfallsweise an Armen und Beinen auf und waren nach ein bis zwei Stunden wieder verschwunden.
Die Kollegen in unserem Forschungslabor fanden in Zusammenarbeit mit den Neurologen und Physiologen einen völlig neuartigen Defekt an einem Kaliumkanal, der so bislang noch nicht bekannt war.
Konnten Sie diesem Patienten denn helfen?
Schäfer: Im Moment ernährt er sich vor allem kaliumarm, und in Kürze beginnen wir eine medikamentöse Therapie. Bereits unter rein diätetischen Maßnahmen spürt er eine leichte Besserung.
Obwohl wir keine Heilung versprechen können, ist der Mann erleichtert, dass sein Leiden endlich einen Namen hat.
Haben Sie noch mehr spannende Fälle?
Schäfer: Leider jede Menge - und hinter jedem Fall steckt ein tragisches Schicksal. Da ist zum Beispiel eine 30-jährige Patientin mit einem CAP-Syndrom (Cryopyrin-assoziiertes periodisches Syndrom).
Sie hat seit früher Jugend unklare Fieberschübe sowie Gelenk- und Muskelschmerzen, eine starke Urtikaria und leidet unter Müdigkeit.
Zuvor hatte man hinter der Urtikaria eine Nahrungsmittelallergie vermutet und die Muskelschmerzen als atypische Myalgien diagnostiziert.
Die Müdigkeit hatte man als reaktive Depression bei Nahrungsmittelallergie gedeutet. Alles plausible Erklärungen, die allerdings das gesamte Krankheitsbild nicht wirklich treffen.
Wie sind Sie auf die richtige Diagnose gekommen?
Schäfer: Eine Kollegin aus unserem Team ist CAP-Expertin und hat sofort die Verdachtsdiagnose "autoinflammatorisches Syndrom" eingebracht.
Da wir eng mit einem Zentrum für Humangenetik zusammenarbeiten, ließen wir dort eine umfassende Genanalytik von Vater, Mutter und Index-Patientin durchführen. Auch hierbei wurde ein bislang einmaliger Defekt aufgeklärt und das CAP-Syndrom diagnostiziert.
Welche Rolle spielt die Genetik generell bei Ihrer Arbeit?
Schäfer: Man geht davon aus, dass es sich bei 70 bis 80 Prozent der seltenen Erkrankungen um genetisch bedingte Defekte handelt. Dabei ist es nahezu revolutionär, was sich im Moment in der Gen-Diagnostik abspielt.
Wir haben heute die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit einen Gendefekt nachzuweisen. Als Anfang dieses Jahrtausends das menschliche Genom publiziert wurde, hatte die komplette Sequenzierung 13 Jahre gedauert und etwa 3 Milliarden US-Dollar gekostet.
Heutzutage schaffen wir es innerhalb von wenigen Tagen für etwa 5000 Dollar. Ähnliches gilt auch für viele andere Laboranalysen, zum Beispiel toxikologische Fragestellungen: Wir haben viele Patienten, bei denen wir nach chronischen Vergiftungen suchen.
Das machen heute spezialisierte Laboranbieter mittels Massenspektrometrie. Für weniger als 200 Euro bekommen Sie in wenigen Tagen knapp 20 Metalle durchgemessen, von Arsen bis Zink.
Das sind riesige Chancen. Aber auch solche Tests muss man ja gezielt anwenden.
Schäfer: Ja, aber früher hätten wir sie auch gezielt nicht anwenden können. Wenn ein Patient in einem Altbau wohnt, wissen wir oft nicht, welche Materialien da verbaut wurden. Früher musste man alles detailliert abfragen.
Eine Kollegin hatte vor einigen Jahren eine erworbene Porphyrie diagnostiziert. Der Patient hatte kolikartige Bauchschmerzen und neurologische Beschwerden. Im Labor zeigte sich eine Anämie mit der für eine Bleivergiftung charakteristischen Tüpfelung der Erythrozyten.
Die Kollegin ging dann in die Wohnung des Patienten und hat dort alles auf den Kopf gestellt. Am Ende kam heraus, dass der Patient eine antike Badewanne besaß, die noch mit Bleiweiß und Bleirohren versehen war.
Wie würden Sie das heute machen?
Schäfer: Heute würden wir das Blut in unser Referenzlabor zum Metall-Tox-Screening schicken, und drei Tage später hätten wir die Diagnose. Sicher müsste man dann noch nachsehen, woher das Blei kommt.
Aber diese Detektivarbeit ist durch die Entwicklung im Bereich der Diagnostik viel leichter geworden - und auch billiger.
Wie gehen Sie üblicherweise bei der Diagnostik seltener Erkrankungen vor?
Schäfer: Wir nutzen zunächst die ganz normalen Diagnosealgorithmen der Inneren Medizin. Dazu gehören vor allem die ausführliche Anamnese und das detaillierte Erfassen der Symptome. Ganz wichtig ist bei uns die Teamarbeit.
Im universitären Setting können wir uns die Zeit nehmen, schwierige Fälle ausführlich gemeinsam zu diskutieren. Wir sind insgesamt zehn Fachärzte, vom Neurologen über die Psychosomatikerin bis hin zum Allgemeinmediziner.
Zur "Grundausstattung" gehören auch iPads mit Zugriffsrechten auf alle möglichen Medizindatenbanken. In "Orphanet" sind wir fast jeden Tag. Zusätzlich nutzen wir "Up-to-Date" , "Phenomizer" und natürlich auch "Pubmed".
Die Entwicklungen im IT-Bereich sind enorm hilfreich. Ich hatte vor kurzem im Studentenunterricht einen Patienten mit fehlendem Unterhautfettgewebe, Stammfettsucht und Diabetes, bei dem Cushing ausgeschlossen war.
Vor 20 Jahren musste ich für so etwas noch tagelang in der Bibliothek recherchieren. Meine Studenten kamen eine Viertelstunde später und sagten, "Herr Schäfer, kann das ein Köbberling-Dunnigan-Syndrom sein?"
Die hatten das über das Internet schnell herausgefunden.
Sie geben Ihren Studenten regelmäßig "medizinische Rätsel" auf. Dabei zeigen Sie auch Ausschnitte aus der Fernsehserie "Dr. House" …
Schäfer: Auch wenn manche das belächeln mögen: Solche Sendeformate können sehr hilfreich sein, denn sie bewirken, dass die Studenten mit Spaß in die Diagnosefindungs-Seminare kommen und auch später noch an seltene Erkrankungen denken.
Von Patienten mit seltenen Erkrankungen können wir übrigens auch sehr viel für häufige Erkrankungen lernen.
Bestes Beispiel ist die familiäre Hypercholesterinämie. Diese hat in der homozygoten Form eine Prävalenz von 1:1 Million. Die Betroffenen sterben schon im Kindesalter an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall.
An diesem Extrembeispiel konnte man schon vor 100 Jahren erkennen, wie gefährlich Cholesterin ist. Insofern haben wir das Risikofaktorenkonzept der Atherosklerose als Folge von Cholesterinstoffwechselstörungen ein Stück weit den Patienten mit seltenen Erkrankungen zu verdanken.
Ist es sinnvoll, seltene und unerkannte Erkrankungen - wie in Ihrem ZusE Konzept - zusammenzufassen? Das ist ja eine sehr heterogene Gruppe.
Schäfer: Es macht extrem viel Sinn und hat sich auch sehr bewährt. Die Menschen wissen primär ja nicht, ob es sich um eine seltene Krankheit handelt oder ob die Ursache der Beschwerden nur noch nicht richtig erkannt wurde.
Zudem ist der Arbeitsalgorithmus gleich, egal, ob jemand einen Morbus Wilson, eine Kobaltvergiftung oder eine Borreliose hat.
Ich fände es übrigens wünschenswert, wenn sich die Zentren ganz bewusst "Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen" - ZusE - nennen würden.
Dies würde es sowohl den zuweisenden Ärzten als auch den Patienten einfacher machen, die richtigen Ansprechpartner zu finden.
Was prädestiniert einen Arzt, der sich auf das Lösen medizinischer Rätsel spezialisiert hat?
Schäfer: Letztlich ist das eine Tätigkeit, wie sie jeder andere Arzt auch macht. Nur fangen wir da an, wo die anderen aufgehört haben.
Wenn zu uns jemand mit Bauchschmerzen kommt, dann wissen wir, es kann keine Gallenkolik sein, weil das die Kollegen draußen schon abgearbeitet haben. Wir denken dann vielleicht eher an die Porphyrie. Man muss Medizin eben manchmal ein bisschen als Krimi sehen.
Ist Ihre Tätigkeit eigentlich wirtschaftlich rentabel?
Schäfer: Ich möchte jetzt nicht durchrechnen, wie hoch das Defizit oder wie gering der Gewinn ist, den wir erwirtschaften. Wir sehen das als notwendiges Leistungsangebot - so wie die Notaufnahme oder die Kinderklinik.
Im aktuellen Honorierungssystem mit den DRG sind die seltenen Erkrankungen jedoch nicht fair abgebildet. Wenn man eine Hüftkopfprothese einbaut, wird das angemessen honoriert.
Aber einen Patienten mit systemischem Lupus zu diagnostizieren, bei dem Sie Labor, Haut- und Nierenbiopsie brauchen, womöglich lange Zeit über den Fall nachdenken müssen - das ist im DRG-System nicht vorgesehen.
Deshalb gibt es auch in Deutschland so wenige Anlaufstellen. Mein Vorschlag wäre, zumindest an Häusern der Maximalversorgung drei Prozent der Zuweisungsbeträge für Patienten mit seltenen Erkrankungen zu reservieren.
Dann würde jeder im Altarchiv nachsehen, ob sich nicht doch noch irgendwo ein Lupus findet. Wir sollten uns den Spruch von "Orphanet" zu Herzen nehmen: "Keine Krankheit kann zu selten sein, um ihr die Aufmerksamkeit zu verweigern.
"Hilfreicher Link zu medizinischen Datenbanken: http://www.meddb.info/