Hintergrund
Ein Krebsmittel wird zur Hoffnung für Gelähmte
Ein Unfall und nichts ist wie früher: Wer heute querschnittsgelähmt ist, trägt die Folgen bis zum Lebensende. Doch nun sind Forscher einem neuen Weg auf der Spur - das zerstörte Rückenmark soll sich wieder regenerieren und zusammenwachsen können. Die Hoffnung ist ein 40 Jahre altes Krebsmedikament.
Veröffentlicht:Querschnittlähmung - das ist meist die unheilbare Folge, wenn Nervenstränge im Rückenmark stark gequetscht oder durchtrennt werden. Denn anders als bei einem Schnitt in den Finger wachsen Nervenzellen im ZNS nach einer Verletzung nicht wieder aus.
Seit vielen Jahren arbeiten Wissenschaftler weltweit daran, den Grund für diesen Unterschied zu verstehen. Mittlerweile ist klar, dass ganz unterschiedliche Faktoren beim Wachstumsstopp der Nervenzellen eine Rolle spielen.
So fanden die Forscher mehrere Stoffe im Umfeld der verletzten ZNS-Nervenzellen, die eine Art Stoppsignal für ein erneutes Auswachsen darstellen. Ein solches Molekül wurde bereits Mitte der 90er Jahre entdeckt. Es erhielt den passenden Namen "nogo".
Chaos in den Mikrotubuli blockiert das Wachstum
Doch auch das Zellskelett, bestehend aus kleinen Proteinröhrchen, den Mikrotubuli, gerät in den verletzten Zellenden völlig durcheinander. Dies verhindert ebenfalls ein erneutes Wachsen der Zellen.
Und nicht zuletzt verhindert das Narbengewebe, das sich nach einer Verletzung im Rückenmark bildet, dass die Nervenzellen ihre ehemaligen Anknüpfungsstellen wieder erreichen.
Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried untersuchen Privatdozent Frank Bradke und sein Team die zellinternen Mechanismen, die für den Wachstumsstopp der Nervenzellen verantwortlich sind: "Wir wollen die Zellen dazu bringen weiterzuwachsen und die Stoppzeichen in ihrer Umgebung zu ignorieren."
Dabei konzentrierten sich die Neurobiologen auf die Rolle der Mikrotubuli. Diese Proteinröhrchen sind an der Spitze einer auswachsenden Nervenzelle, dem Wachstumskegel, parallel angeordnet.
Sie stabilisieren die wachsende Zelle und fördern ihr Wachstum, indem sie das Zellende aktiv vorwärts schieben. Ganz anders also, als bei verletzten ZNS-Nervenzellen.
Hoffnung bringt ein 40 Jahre altes Taxan
Wie kann also die Ordnung der Mikrotubuli in diesen Zellen behalten oder wiederhergestellt werden? Und wenn die Zellen einmal wachsen, wie können sie die Mauer aus Narbengewebe überwinden?
Zusammen mit ihren Kollegen vom Kennedy Krieger Institut und der Universität Miami in den USA sowie von der Universität Utrecht in den Niederlanden fanden die Max-Planck-Forscher nun eine Lösung tatsächlich gleich für beide Probleme.
Wie die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift "Science" (2011; 331: 928) berichten, fördert das Krebsmedikament Paclitaxel die Regeneration verletzter ZNS-Neurone auf zwei Arten.
Paclitaxel stabilisiert die Mikrotubuli, sodass ihre Ordnung bestehen bleibt und eine verletzte Nervenzelle wieder auswachsen kann. Zudem verhindert das Zytostatikum die Bildung eines hemmenden Stoffs im Narbengewebe.
Zwar wird das Narbengewebe noch immer gebildet und kann seine Schutzfunktion übernehmen. Es ist jedoch schwächer ausgeprägt und für wachsende Nervenzellen deutlich einfacher zu überwinden. "Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein kleiner Durchbruch", sagt Bradke.
Bei Ratten verbesserte sich das Laufverhalten
Die Wirkung von Paclitaxel konnten die Forscher in Versuchen an Ratten bestätigen. Nach einer teilweisen Verletzung von Nervenzellen im Rückenmark wurde mithilfe einer kleinen Gewebepumpe die betroffene Stelle mit Paclitaxel versorgt. Bereits nach einigen Wochen zeigten die Tiere eine deutliche Verbesserung in ihrem Laufverhalten.
"Bisher haben wir die Wirkung von Paclitaxel direkt nach einer Verletzung getestet", so Dr. Farida Hellal, die Erstautorin der Studie. "Als nächstes wollen wir untersuchen, ob Paclitaxel seine Wirkung auf das Narbengewebe auch dann noch entfalten kann, wenn wir es mehrere Monate nach einer Verletzung hinzugeben."
Die Forscher glauben an einen vielversprechenden Weg
Dass ein bereits zugelassenes Arzneimittel diese Wirkung zeigt, hat mehrere Vorteile, denn es ist bereits viel über das Verhalten von Paclitaxel im menschlichen Körper bekannt.
Da für die Behandlung von Patienten mit Rückenmarksverletzungen deutlich niedrigere Mengen der Substanz als bei der Krebstherapie benötigt werden und nur direkt an die Verletzungsstelle gegeben werden, sollten die unerwünschten Arzneimittelwirkung geringer ausfallen.
"Wir befinden uns jedoch noch im Stadium der Grundlagenforschung und es müssen noch verschiedene Hürden und später auch die vorklinischen Tests an anderen Instituten durchlaufen werden", gibt Bradke zu bedenken. "Ich glaube aber, dass wir hier auf einem vielversprechenden Weg sind."