Psychische Störungen
Ein Risikofaktor für Gewalttaten?
Psychisch Kranke sind insgesamt nicht gewaltbereiter, jedoch ist das Gewaltrisiko bei Psychosen und Suchterkrankungen erhöht. Eine adäquate Behandlung kann es drastisch senken.
Veröffentlicht:BERLIN. Der 24. März 2015 war nicht nur ein schwarzer Tag für die deutsche Luftfahrtgeschichte, der Absturz des Germanwings-Flugs 9525 befeuerte erneut das Bild des gewaltbereiten psychisch Kranken. Der Copilot, der die Maschine in suizidaler Absicht in die französischen Alpen gerammt und 149 Menschen mit in den Tod gerissen hatte, hätte eigentlich an diesem Tag in einer psychiatrischen Klinik sitzen sollen: Ein Arzt hatte zwei Wochen zuvor den Verdacht auf eine Psychose geäußert und eine Klinikeinweisung empfohlen. Auch soll der Suizidpilot am Absturztag Antidepressiva genommen haben.
Kurz darauf wurde munter über ein Berufsverbot für Depressive diskutiert, erinnerte Professor Wolfgang Maier von der Uniklinik Bonn beim DGPPN-Kongress in Berlin. So dachte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) offen darüber nach, Depressiven eine Tätigkeit als Piloten und Busfahrer zu verbieten.
Solche Aussagen verstärkten jedoch Mythen, so Maier, wonach psychisch Kranke substanziell gefährlicher seien als der Rest der Bevölkerung. Auch legten sie nahe, die Gewalt von psychisch Kranken ließe sich vorhersagen. Nach Ansicht von Maier ist eine psychische Krankheit per se jedoch kein Risikofaktor für Gewalt, vielmehr gebe es gemeinsame Risikofaktoren für Gewaltdelikte und psychische Störungen. Der Psychiater nannte als Beispiel sogenannte "Record-Linkage-Studien", wie sie anhand skandinavischer Datenbanken möglich sind. Dabei werden Diagnoseregister etwa mit Polizeiregistern verknüpft, wobei sich häufig ein Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und einer erhöhten Delinquenzrate feststellen lässt.
Laut Maier sind die Untersuchungen jedoch mit Vorsicht zu genießen, da sie viele Fehlerquellen beinhalten. So ist vielleicht die Aufklärungsquote bei psychisch Kranken höher als in der Allgemeinbevölkerung.
Besser geeignet seien prospektive Studien wie die NEMESIS (Netherlands Mental Health Survey and Incidence Study) aus den Niederlanden. Auch hier ergab sich zunächst ein deutlicher Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und körperlicher Gewalt. Patienten mit unipolarer Depression wurden etwa 20 Prozent häufiger auffällig, solche mit bipolarer Störung knapp neunfach und alkoholabhängige 13-fach häufiger als Personen ohne psychische Leiden. Insgesamt begingen psychisch Kranke 50 Prozent häufiger Gewaltdelikte als Gesunde.
Wurden jedoch bekannte Risikofaktoren für zwischenmenschliche Gewalt berücksichtigt, etwa ein körperlicher Missbrauch, negative Lebensereignisse und mangelnde soziale Unterstützung, dann ergab sich ein anderes Bild: Depressive begingen danach 60 Prozent seltener Gewaltdelikte als Gesunde, bipolar Erkrankte und Alkoholsüchtige nur noch vierfach häufiger. Unterm Strich ist nach dieser Rechnung bei psychisch Kranken das Risiko für einen körperlichen Gewaltakt sogar um 20 Prozent geringer als in der Allgemeinbevölkerung.
Für Maier folgt daraus, dass nicht die psychische Erkrankung zu mehr Gewalt führt, sondern dass kritische Lebensereignisse und ein wenig unterstützendes soziales Umfeld sowohl Gewalttaten als auch psychische Erkrankungen begünstigen. Gewaltprävention müsste daher in erster Linie bei diesen Risikofaktoren ansetzen.
Für Psychosen und Suchterkrankungen bleibt jedoch ein erhöhtes Gewaltpotenzial auch nach Berücksichtigung der genannten Risikofaktoren bestehen. Hier könnte es also in der Tat eine kausale Beziehung zwischen Erkrankung und Gewaltausbrüchen geben.
Allerdings lasse sich die Gefahr von Gewalttaten durch eine adäquate psychiatrische Behandlung deutlich senken, erläuterte Maier. Er verwies auf eine Untersuchung, nach der knapp 40 Prozent der Psychosekranken, die jemanden getötet hatten, zuvor nicht antipsychotisch behandelt worden waren.
Solche Patienten würden rund 16-fach häufiger Tötungsdelikte begehen als Behandelte. Entsprechend ereignen sich Gewalttaten vor allem während des ersten psychotischen Schubs – hier liegt die Rate rund 20-fach höher als bei folgenden Schüben, bei denen die Patienten in der Regel rechtzeitig medikamentös behandelt werden. Maier verwies auch auf das hohe Suizidrisiko: Psychosekranke würden rund dreifach häufiger gegen sich selbst als gegen andere die Hand erheben, zudem seien Alkohol und Drogen während psychosebedingter Gewalttaten von großer Bedeutung.