Das Phänomen Orthorexie
Ernährungsfanatiker haben oft eine Essstörung
Nur noch Steinzeitdiät oder doch lieber frugan? Wer seine Ernährung übertrieben einengt, ist oft an einer Bulimie oder Anorexie erkrankt. Unser Autor hat diese Erkenntnis vom DGPPN mitgebracht.
Veröffentlicht:BERLIN. Der allgegenwärtige Überfluss an Nahrungsmitteln treibt mitunter seltsame Blüten: Mal wird die Paleo-Diät als einzig wahre oder "artgerechte" Ernährung für Menschen beworben, mal soll der Fruganismus den Menschen wieder in Einklang mit der Schöpfung bringen.
Bei dieser Diät werden nicht nur Tiere verschont, sondern konsequenterweise auch Pflanzen. Gegessen wird nur, was die Natur freiwillig hergibt, primär also Früchte, am besten, nachdem sie zu Boden gefallen sind.
Über den gesundheitlichen Nutzen solcher Extremdiäten mag man streiten, Psychiater sollten aber hellhörig werden, wenn die Suche nach der perfekten Ernährung zu einem Zwang wird, der das Leben massiv beeinträchtigt.
Geht jemand nicht mehr auf Partys, weil es da angeblich nichts Richtiges zu Essen gibt, ist das ein klares Warnzeichen.
Darauf hat Professor Ulrich Voderholzer aus Prien am Chiemsee beim DGPPN-Kongress in Berlin hingewiesen (Ulrich Voderholzer. Unerreichbare Schönheitsideale: Körperbildstörungen bei jungen Frauen und Männern. Pressekonferenz III: Durchtrainiert, selbstoptimiert und ständig online – wenn der moderne Lifestyle uns krank macht. Kongress der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 23.–26. November.).
Tiefe Unsicherheit als Ursache
Die Orthorexie – das zwanghaft-übertriebene Einengen der Ernährung auf vermeintlich gesunde Lebensmittel – geht häufig mit einer manifesten Essstörung einher.
Voderholzer nannte Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung bei über 400 psychisch Kranken. Danach ließ sich bei knapp 38% der Anorexie- und bei 26% der Bulimiekranken eine Orthorexie feststellen.
In einer Vergleichsgruppe mit gesunden jungen Menschen und Studenten lag die Prävalenz bei etwa 2–3%. Ähnlich hoch war sie auch bei Depressiven und bei Patienten mit Zwangsstörungen.
Keine psychiatrische Diagnose
Orthorexie ist für sich genommen jedoch keine psychiatrische Diagnose, gab Voderholzer zu bedenken. Der Begriff wurde vom US-Arzt Steven Bratman Ende der 1990er-Jahre eingeführt, um ähnlich wie bei Anorexie einen krankhaften Umgang mit der Ernährung zu kennzeichnen.
Bratman, der selbst betroffen war, sah vor allem in der Ideologisierung der Ernährung ein Problem. Orthorektiker halten ihre Ernährungsweise oft für gesund und moralisch überlegen. Dahinter, so Voderholzer, stecke aber häufig eine tiefe Unsicherheit und Suche nach Orientierung.