Verkehrte Welt?

Forscher entdecken erst die Krankheit, dann die Patienten

Vor einigen Jahren haben Wissenschaftler die Erbkrankheit MPS III-E entdeckt – aber noch keine passenden Patienten dazu. Jetzt wurde die Krankheit bei fünf Patienten aus Israel nachgewiesen.

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Mit Zellkulturen haben Dr. Björn Kowalewski und Mai-Britt Ilse nachgewiesen, dass bei Patienten mit MPS III-E das Gen für das Enzym Arylsulfatase G seine Funktion verloren hat.

Mit Zellkulturen haben Dr. Björn Kowalewski und Mai-Britt Ilse nachgewiesen, dass bei Patienten mit MPS III-E das Gen für das Enzym Arylsulfatase G seine Funktion verloren hat.

© Universität Bielefeld

BIELEFELD. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms macht es möglich: Wissenschaftler können heute potenzielle Erbkrankheiten entdecken, zu denen noch kein Patient bekannt ist. Eine solche Krankheit ist "MPS III-E" oder auch "Dierks‘sche Krankheit", eine Unterform des Mucopolysaccharidose-Syndroms, die Wissenschaftler um Professor Thomas Dierks von der Universität Bielefeld bereits im Jahr 2012 beschrieben hatten.

Genomanalysen liefern den Beweis

Die Forscher stellten damals fest, dass sich bei Mäusen, bei denen das Gen für das Enzym Arylsulfatase G defekt ist, ab einem Alter von zwölf Monaten die geistigen Fähigkeiten verringerten (PNAS 2012; 109(26): 10310–10315). Sie hatten vor allem mit Vergesslichkeit, Lern- und Koordinationsschwierigkeiten zu kämpfen. Auch das Seh- und Hörvermögen der Tiere nahm ab.

Eigentlich spaltet das Enzym Arylsulfatase G das Kohlenhydrat Heparansulfat auf. Das geschieht in den Lysosomen. Ohne Arylsulfatase G kann Heparansulfat nicht richtig aufgespaltet werden – die langen Moleküle bleiben liegen und reichern sich im Lysosom immer weiter an, das schließlich aufhört, zu arbeiten, berichtet die Uni Bielefeld.

Dann werden auch andere Stoffe wie Proteine und Fette nicht mehr abgebaut und häufen sich an. Das Lysosom dehnt sich immer weiter aus und schädigt die Zelle, bis diese schließlich abstirbt.

Hirnregion wird abgebaut

Im Mausmodell führte die Mutation im Gen für Arylsulfatase G dazu, dass durch die Anhäufung des Heparansulfats die Purkinje-Zellen im Kleinhirn abstarben und, begleitet von Entzündungen, durch Glia-Zellen ersetzt wurden. Diese haben aber nur noch eine Stützfunktion und bilden keine neuen Nervenverbindungen aus.

Wenige Jahre nach der Entdeckung der Bielefelder Forscher berichteten Ärzte vom Hadassah-Hebrew University Medical Center in Jerusalem von drei Patientenfamilien mit Symptomen einer fortschreitenden Erblindung, die auf einen bislang unbekannten Gendefekt hindeuteten.

Genomanalysen an der Universität Lausanne lieferten ein bereits bekanntes Kandidaten-Gen – das Gen für das Enzym Arylsulfatase G. Nach Untersuchungen des Teams um Dierks steht nun fest: die Patienten haben tatsächlich MPS III-E (Gen Med 2018; online 4. Januar).

Überraschung für die Wissenschaftler

Durch biochemische Untersuchungen und Erbgut-Analysen ließ sich die Krankheit bei fünf Patienten der israelischen Familien nachweisen. "Diese Personen können zunehmend schlechter sehen, weil ihre Netzhaut verkümmert. Außerdem entwickeln sie eine Innenohr-Schwerhörigkeit", wird Dierks in einer Mitteilung der Uni Bielefeld zitiert. "Die gleichen Symptome haben wir in unseren früheren Studien auch bei Mäusen festgestellt."

Um sicherzugehen, dass das mutierte Gen der Patienten auch tatsächlich zu dem Enzym-Defekt führt, untersuchten die Wissenschaftler das Patienten-Gen in einer Zellkultur. "Das Enzym war tatsächlich stark beschädigt. Es kann das Heparansulfat nicht aufspalten", berichtet Dierks.

Früherer Verlauf als angenommen

Eine Überraschung erlebten die Forscher, als sie sich erstmals mit den israelischen Patienten befassten. "Die Symptome zeigten sich bei ihnen erst im Alter von 40 Jahren. Anhand unserer Untersuchungen mit den Mäusen hatten wir angenommen, dass sie viel früher – vielleicht nach zehn Jahren – auftreten", sagt Dierks.

Den späten Ausbruch der Krankheit erklärt er damit, dass große Teile des Heparansulfat-Moleküls auch ohne Arylsulfatase G abgebaut werden können. "So braucht es mehr Zeit, um sich anzureichern."

Weil jetzt die Ursache der Symptome feststeht, kann über eine Enzym-Ersatz-Therapie der Patienten nachgedacht werden. "Das benötigte Enzym lässt sich mithilfe von Zellkulturen biotechnologisch herstellen", sagt Dierks. "Allerdings ist das Gehirn für das Enzym schwer zu erreichen. Außerdem müsste die Krankheit bereits vor Auftreten der Symptome über Gentests diagnostiziert werden, damit die Therapie begonnen werden kann, bevor irreparable Schäden entstehen."

Nachdem jetzt bekannt ist, zu welchen Symptomen die Erbkrankheit bei Menschen führt, geht Dierks davon aus, dass der Gendefekt bei weiteren Personen diagnostiziert wird. "Patienten dürften sich vor allem unter den ungeklärten Fällen mit Usher-Syndrom finden lassen – so wird ein kombinierter Seh- und Hörverlust bezeichnet", so die Vermutung des Wissenschaftlers. (eb/bae)

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