In Akutsituationen

Großzügige Sauerstofftherapie erhöht die Mortalität

Wird die Indikation zu einer Sauerstofftherapie bei akuten Erkrankungen zu liberal gestellt, kann das lebensnotwendige Gas unter Umständen tödlich wirken. Das ist die Aussage einer kanadischen Studie.

Von Beate Schumacher Veröffentlicht:
Eine liberale Sauerstofftherapie kann wegen der guten SpO2-Werte dazu beitragen, dass eine Zustandsverschlechterung der Patienten zu spät erkannt wird.

Eine liberale Sauerstofftherapie kann wegen der guten SpO2-Werte dazu beitragen, dass eine Zustandsverschlechterung der Patienten zu spät erkannt wird.

© Sean Prior / Fotolia

HAMILTON. Die Einschätzung, dass die großzügige Gabe von Sauerstoff bei Patienten mit akuter Erkrankung im besten Fall nützlich, im schlechtesten zumindest nicht schädlich sei, ist möglicherweise noch zu optimistisch: Einer Metaanalyse zufolge ist eine liberale Sauerstofftherapie bei diesen Patienten insgesamt mit einer erhöhten Kurz- und Langzeitmortalität assoziiert, ohne dass positive Effekte auf die Morbidität zu erwarten sind (Lancet 2018; 391: 1693–1705).

Hypoxämie-Patienten außen vor

Für die Metaanalyse werteten Ärzte um Derk Chu von der McMaster University im kanadischen Hamilton 25 randomisierte kontrollierte Studien aus. In den Studien waren liberale und konservative Sauerstofftherapie bei mehr als 16.000 Erwachsenen mit akuter Erkrankung – etwa Sepsis, kritische intensivmedizinisch behandelte Erkrankung, Schlaganfall, Trauma, Herzinfarkt, Herzstillstand oder Notoperation – verglichen worden.

Patienten mit Hypoxämie waren von zwölf, Patienten mit schwerer Hypoxämie von allen Studien ausgeschlossen; im Median erreichte die periphere Sauerstoffsättigung (SpO2) zu Beginn 96,4 Prozent bei den liberal und 96,7 Prozent bei den konservativ mit Sauerstoff Versorgten.

Als liberal galt jeweils die Therapie in dem Studienarm mit dem höheren Sauerstoffziel, wobei die Ziele zwischen den Studien variierten. Median betrug die inspiratorische Sauerstofffraktion (FIO2) 0,52 für acht Stunden bei liberaler und 0,21 bei konservativer Therapie. In den meisten Studien wurde über eine Gesichtsmaske (13 Studien) oder maschinell (acht Studien) beatmet.

Risiko um mehr als ein Fünftel erhöht

Die großzügige Sauerstoffgabe erhöhte im Vergleich zur konservativen Strategie das Risiko, im Krankenhaus zu sterben, um 21 Prozent. Die 30-Tages- und die Drei-Monats-Mortalität gingen um 14 und 10 Prozent nach oben, alle Unterschiede erwiesen sich als signifikant.

Der Zusammenhang war zudem dosisabhängig: Mit zunehmender SpO2 stieg das Sterberisiko im Krankenhaus und innerhalb von drei Monaten. Dabei machte es offenbar keinen Unterschied, ob die Patienten auf der Intensivstation behandelt bzw. invasiv beatmet wurden oder nicht.

Die absoluten Risikosteigerungen bei großzügiger Sauerstoffgabe beliefen sich auf 1,1 Prozent bei der Krankenhausmortalität und 1,4 bzw. 1,2 Prozent bei der Sterblichkeit nach 30 Tagen bzw. drei Monaten.

Die Number Needed to Harm errechnet sich damit zu etwa 71. Das heißt, wenn 71 akut erkrankte Patienten statt einer zurückhaltenden eine liberale Sauerstofftherapie erhalten, ist mit einem zusätzlichen Todesfall zu rechnen.

Strategie ohne Vorteile?

Im Hinblick auf die Morbidität war die liberale Strategie weitgehend ohne Vorteile: Weder die Behinderung nach Schlaganfall noch nosokomiale Infektionen bzw. Pneumonien oder die Dauer des Krankenhausaufenthalts wurden dadurch verändert.

Lediglich in der Gruppe der Patienten, die notfallmäßig operiert worden waren, traten bei großzügiger Sauerstoffgabe weniger nosokomiale Infektionen auf; in den entsprechenden Studien waren allerdings statistische Verzerrungen nicht auszuschließen.

"Für akut kranke Erwachsene haben wir Evidenz von hoher Qualität, dass eine liberale Sauerstofftherapie das Mortalitätsrisiko erhöht, ohne andere patientenrelevante Ergebnisse zu verbessern", so die Studienautoren. Oberhalb eines SpO2-Wertes von 94–96 Prozent könne sich eine zusätzliche Sauerstoffgabe ungünstig auswirken. Hier sei allerdings weitere Forschung notwendig, um die Schwellenwerte zu identifizieren, bei denen die Gefahren einer Hyperoxämie die Risiken einer Hypoxämie übersteigen.

Mortalität "biologisch plausibel"

Der Zusammenhang zwischen großzügiger Sauerstofftherapie und erhöhter Mortalität ist laut Chu und Kollegen "biologisch plausibel": Aus mechanistischen Untersuchungen wisse man, dass Vasokonstriktion, Entzündung und oxidativer Stress in Lungen, Herz-Kreislauf- und Nervensystem durch eine Hyperoxie gefördert würden.

Aus klinischen Studien gibt es zudem Hinweise auf ein erhöhtes Risiko von Atemversagen oder erneutes Auftreten von Schock oder Herzinfarkt. Im Klinikalltag könne eine liberale Sauerstofftherapie wegen der guten SpO2-Werte dazu beitragen, dass eine Zustandsverschlechterung der Patienten zu spät erkannt werde.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 29.05.201815:02 Uhr

Was soll das? - Von wegen "O2 can do"!

Meine persönliche Faustregel: Die periphere Sauerstoffsättigung SpO2 gilt als normal, wenn sie über 95 % liegt. Bei einem Wert u n t e r 95 % bzw. um kritische 92 % oder darunter weist das periphere Blut eine anormal niedrige Sauerstoffsättigung auf.

Doch was sollte ich dann mit einer "Pseudo-Metaanalyse" anfangen, die willkürlich Patienten mit Hypoxämie in zwölf und Patienten mit schwerer Hypoxämie in allen Studien ausgeschlossen hatte.

Absoluter Unfug, zu behaupten: "Für akut kranke Erwachsene haben wir Evidenz von hoher Qualität, dass eine liberale Sauerstofftherapie das Mortalitätsrisiko erhöht, ohne andere patientenrelevante Ergebnisse zu verbessern", wenn diese überhaupt nicht indiziert war. Das ist doch der springende Punkt!

Oberhalb eines SpO2-Wertes von 94–96 Prozent (!) führte eine Sauerstoffgabe zu absoluten Risikosteigerungen von 1,1 Prozent bei der Krankenhausmortalität und 1,4 bzw. 1,2 Prozent bei der Sterblichkeit nach 30 Tagen bzw. drei Monaten:

Da fragt man sich als medizinisch geschulter Beobachter doch, wieso eine überhaupt nicht indizierte Sauerstoffgabe bei normalem SpO2 durchgeführt wurde? Hat da jemand den Mobilfunk-Werbespruch "O2 can do" gründlich missverstanden?

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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