Primärprävention
Keine generelle Absage zu ASS mehr
ASS ist in der kardiovaskulären Primärprävention umstritten. Eine Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) plädiert nun in einem Positionspapier für "individuelle Entscheidungen".
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Während die antithrombotische Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) nach Herzinfarkt als evidenzbasiert etabliert ist, ist ihr Stellenwert in der Primärprävention bei Patienten ohne bekannte kardiovaskuläre Erkrankung umstritten.
Dass ASS dabei ohne Nutzen ist, lässt sich nicht behaupten. Die entscheidende Frage ist aber, in welchem Verhältnis der Nutzen zu den Risiken in Form vermehrter Blutungen steht.
Eine 2009 publizierte Analyse der Antithrombotic Trialists‘ (ATT) Collaboration, die auf Daten von 95.000 Personen mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko gründet, kommt zu dem Ergebnis, dass eine Primärprävention mit ASS das Risiko für schwerwiegende vaskuläre Ereignisse relativ um 12 Prozent verringerte. Der absolute Unterschied der Ereignisraten ist aufgrund des niedrigen Risikos allerdings gering (0,51 vs 0,57 pro Jahr).
Der Unterschied resultiert vor allem aus einer Reduktion nicht-tödlicher Herzinfarkte. Dieser Reduktion steht jedoch eine Zunahme von Blutungen - darunter gastrointestinale Blutungen und hämorrhagische Schlaganfälle - in nahezu gleicher Größenordnung gegenüber.
Bei Schlaganfällen insgesamt und bei der vaskulär bedingten Mortalität gab es keine relevanten Unterschiede. Auch bestand keine klare Dissoziation zwischen den Risiken für ischämische Ereignisse und für Blutungen - die Risikofaktoren waren jeweils nahezu die gleichen.
Die Autoren der Metaanalyse kommen deshalb zu dem Schluss, dass der Nutzen von ASS in der Primärprävention "unsicher" sei, da die Reduktion ischämischer Ereignisse gegen eine Zunahme schwerwiegender Blutungen abzuwägen sei.
Auch drei 2011 und 2012 veröffentlichte Metaanalysen schufen trotz vergrößerter Studienbasis keine solide Grundlage für Empfehlungen - auch nicht bei Patienten mit Diabetes.
Entsprechend breit gefächert ist das Angebot an Empfehlungen in den Leitlinien diverser Fachgesellschaften. Die European Society of Cardiology (ESC) etwa stuft die Behandlung mit ASS bei Personen ohne kardiovaskuläre oder zerebrovaskuläre Erkrankung in ihren 2012 aktualisierten Leitlinien zur kardiovaskulären Prävention als nicht empfehlenswert ein.
Andererseits geht das American College of Chest Physicians (ACCP) so weit, die Prävention mit ASS in niedriger Dosis pauschal ab einem Alter von 50 Jahren zu empfehlen - ungeachtet des individuellen Risikos. Dazwischen bewegt sich die US Preventive Services Task Force, die ASS bei Männern (45 bis 79 Jahre) und Frauen (55 bis 79 Jahre) befürwortet - vorausgesetzt, der Vorteil einer Reduktion von Herzinfarkten (bei Männern) und von ischämischen Schlaganfällen (bei Frauen) überwiegt das Risiko für gastrointestinale Blutungen.
Auch die Thrombose-Arbeitsgruppe der ESC hat nun in der Sache Stellung bezogen. Ihr Positionspapier ist keine generelle Absage an die Primärprävention mit ASS. Vielmehr plädieren die Experten für eine am individuellen kardiovaskulären Risikoprofil ausgerichtete Entscheidung für oder gegen eine ASS-Behandlung (J Am Coll Cardiol 2014: 64: 319-327).
Zur Risiko-Abschätzung können verschiedene Scores herangezogen werden, etwa der Framingham Risk Score (FRS), der auf das Risiko für Koronarereignisse zielt, oder das SCORE-System, welches das 10-Jahres-Risiko für tödliche kardiovaskuläre Krankheiten in europäischen Regionen erfasst.
Für die ESC-Arbeitsgruppe galt es, auf Grundlage der vorliegenden Daten diejenige Schwelle im kardiovaskulären Risiko zu bestimmen, oberhalb derer der Nutzen einer Primärprävention mit ASS deren Risiken bezüglich Blutungen übersteigt.
Diese Schwelle, ab der eine ASS-Prophylaxe gerechtfertigt erscheint, sieht die Gruppe dann erreicht, wenn das 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläre Ereignis (Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall) mindestens 20 Prozent beträgt oder wenn mit mindestens zwei Ereignissen pro 100 Personenjahre zu rechnen ist. Voraussetzung sei aber, dass keine Faktoren (Ulzera, Co-Medikation) vorhanden sind, die das Blutungsrisiko erhöhen können.