Meist erkranken Männer an der Maladie des Tics

Von Angela Speth Veröffentlicht:

Täglich schlendert er den Boulevard "Unter den Linden" entlang, korrekt im Anzug, Aktentasche unterm Arm, aber schimpfend wie ein Rohrspatz, wobei er sich ständig gegen die Stirn haut. "Ein armer Irrer!", lästern Zuschauende in den Straßencafes über das kostenlose Unterhaltungsprogramm, die bühnenreife One-man-Show, und auch der TV-Moderator Peter Hahne, der diese Anekdote erzählt, lacht mit - bis ihn eines Tages ein Kollege aufklärt: "Der leidet am Tourette-Syndrom."

Epidemiologie

Einfache Tics sind weit verbreitet, fast jedem ist schon mal an sich selbst aufgefallen, daß er - zumindest zeitweise - Bewegungen wiederholt, die keinem bestimmten Zweck dienen. Gang und gäbe ist dies auch bei Schulkindern und Jugendlichen: Einer Studie zufolge traten bei einem Fünftel während der achtmonatigen Untersuchung wenigstens vier Wochen lang motorische Tics auf. Meist sind sie nur transient. Das Tourette-Syndrom dagegen ist eine chronische Störung. Es kommt in allen Ländern und allen Schichten vor. Die Prävalenz wird auf 5 pro 10 000 Einwohner geschätzt. Viermal mehr Männer als Frauen erkranken. (ars)

Maladie des Tics nannte der Pariser Nervenarzt Georges Gilles de la Tourette, der sie 1885 erstmals beschrieb, diese neuropsychiatrische Störung. Diese Krankheit beginnt meist schon im Kindesalter. Kennzeichen sind periodische unwillkürliche Muskelkontraktionen ( Nervenarzt 73, 2002, 805, Curr Opin Neurol 16, 2003, 523).

Patienten fühlen vor dem Tic eine Spannung oder Kribbeln

An den motorischen Tics ist die Skelettmuskulatur beteiligt, an den vokalen Tics die für Phonation und Artikulation zuständigen Muskelgruppen, so daß der Patient Wörter oder Laute ausstößt. Motorische Tics beginnen meist zwischen dem siebten und elften Lebensjahr, vokale Tics durchschnittlich etwas später, im Alter von elf Jahren.

Häufig kommt es zu einem Wechsel der beteiligten Muskeln: Neue Muskelgruppen werden einbezogen, früher aktive kommen zur Ruhe. Perioden mit starker Ausprägung wechseln mit Phasen geringerer Intensität und Häufigkeit. Oft können die Zuckungen auch für eine gewisse Zeit willkürlich unterdrückt werden oder lassen nach, wenn die Patienten sich stark auf eine Tätigkeit konzentrieren. Viele verspüren ein sensomotorisches Vorgefühl als Drang, Spannung oder Kribbeln, das sich löst, sobald sie den Tics nachgeben.

Nur wenige Muskelgruppen sind bei den einfachen Tics beteiligt. Sie gehen rasch vor sich, wie schnelle Zuckungen, und wirken meist unbeabsichtigt: Naserümpfen, Blinzeln, Mund- oder Schulterzucken, Zurückwerfen des Kopfes.

Einfache vokale Tics sind undifferenzierte Laute, Nachahmen von Tiergeräuschen, Hüsteln oder Räuspern. Komplexe Tics verlaufen langsamer und wirken oft wie beabsichtigt. Motorische Beispiele sind das Berühren von Personen und Gegenständen, Zurechtzupfen von Kleidung, Spielen mit den Haaren, Springen, Stampfen, Grimassieren oder Nachahmen der Bewegungen anderer.

Komplexe vokale Tics treten bei Patienten auf, die eigene Wörter oder Wörter von anderen wiederholen oder aber obszöne oder sozial unangemessene Ausdrücke (Koprolalie). Die Koprolalie ist bei TS-Patienten recht verbreitet. Angaben zur Häufigkeit schwanken zwischen 4 und 60 Prozent.

Komorbidität

Fast 90 Prozent der Patienten mit Tourette-Syndrom (TS) haben auch noch andere psychiatrische Erkrankungen. Fast zwei Drittel der Patienten haben zusätzlich Zwangsstörungen, die nicht immer leicht von komplexen motorischen Tics, etwa Zupfen am Bart, abgrenzbar sind. Auch mit Ängsten, affektiven Störungen und dem Restless-legs-Syndrom kann TS einhergehen. Kinder mit TS haben ebenfalls auffallend oft psychiatrische Störungen, etwa Zwangserkrankungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Ängste oder Phobien. Etwa die Hälfte bis zwei Drittel von ihnen erfüllen die Kriterien für das hyperkinetische Syndrom. (ars)

Ein bisher nicht beschriebenes Symptom, eine Variante eines Echophänomens wie Echolalie, also sinnloses Wiederholen von Gehörtem, haben Schweizer Psychiater bei einem 43jährigen Patienten entdeckt. Er zeichnet zwanghaft ihn beeindruckende Objekte, etwa einen Sportwagen, mit dem Finger in der Luft oder auf Oberflächen nach. Die Kasuistik stellen die Psychiater noch im November auf der DGPPN-Tagung in Berlin vor.

Die Tic-Symptomatik läßt sich medikamentös deutlich lindern. Etabliert sind Neuroleptika, die D2-Rezeptoren blockieren. Mittel der ersten Wahl ist den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zufolge Tiaprid. Risperidon, ein atypisches Neuroleptikum, ist gut wirksam, ebenso Olanzapin. Haloperidol hilft bei 80 Prozent der Patienten.

Bei Kindern und Jugendlichen ist die Behandlung mit Pimozid eine Alternative: Es unterdrückt die Tics besser als Haloperidol und verursacht weniger unerwünschte Effekte. Clonidin lindert bei etwa einem Viertel der TS-Patienten die Symptome. Sulpirid hat sich bewährt, wenn außer Tics auch Zwangsstörungen auftreten. Trizyklische Antidepressiva eignen sich für Patienten mit Tics und Aufmerksamkeitsdefizitstörung.

Weitere Optionen sind Baclofen, Ondansetron, Pergolid, intramuskuläre Injektionen von Botulinum-Toxin oder die transdermale Applikation von Nikotin. Auch ein Fallbericht über eine erfolgreiche Behandlung mit Tetrahydrocannabinol, der Hauptwirkkomponente von Marihuana, liegt vor, und zwar von PD Dr. Kirsten Müller-Vahl von der Medizinische Hochschule Hannover.

Neues Antipsychotikum stabilisiert Dopaminspiegel

Insgesamt ist der Erfolg der Therapie von Patienten mit Tourette-Syndrom noch unbefriedigend, weil die am besten wirksamen Mittel, die Neuroleptika, starke unerwünschte Begleiteffekte haben.

Eine neue Hoffnung in diesem Dilemma bietet Aripiprazol, denn es besitzt ein günstiges Profil der unerwünschten Wirkungen. Dieses atypische Antipsychotikum, das in erster Linie zur Behandlung von Menschen mit Schizophrenie angewandt wird, stabilisiert den Dopaminspiegel im Gehirn, wie Professor Mathias Bartels von der Universitätsklinik Tübingen sagt. Bei den ersten Tourette-Patienten, die er mit Aripiprazol behandelt hat, sind die motorischen Tics fast vollständig verschwunden.



Deutliche Hinweise auf genetische Ursache

An der Vererbung der Störung sind mindestens elf Chromosomen beteiligt

Obwohl schon Sigmund Freud die organische Natur des Tourette-Syndroms (TS) hervorgehoben hatte, herrschten in der Ätiologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts psychoanalytische Ansätze vor: Tics wurden zum Beispiel als Reaktion auf frühkindlichen Objektverlust oder als Versuch der Spannungsabfuhr interpretiert. Das Interesse an organischen Ursachen erwachte erst wieder in den 60er Jahren, nachdem die Haloperidol-Therapie erfolgreich war.

Eine erbliche Komponente wurde bereits um die Zeit von Gilles de la Tourette diskutiert. Heutige Familien- und Zwillingsstudien haben sie bestätigt: Drei Viertel der eineiigen und ein Viertel der zweieiigen Zwillinge von TS-Patienten haben ebenfalls Tic-Störungen, wobei der Vererbungsmodus sehr komplex zu sein scheint. Wenigstens 11 der 23 Chromosomen sind offenbar beteiligt.

Die Pathophysiologie der Krankheit ist bisher unbekannt. Entdeckt wurden ein vermindertes Volumen und Asymmetrien in Nervus caudatus, Putamen und Globus pallidus, was Hinweis auf Störungen in den Basalganglien und den damit verbundenen Nervenbahnen ist. Mit neuen bildgebenden Verfahren fand sich in einigen Hirnarealen eine erhöhte, in anderen eine verminderte Stoffwechselaktivität.

Große Bedeutung werden Veränderungen in der Neurotransmission beigemessen, vor allem im dopaminergen System. Diese Hypothese beruht auf der Beobachtung, daß Neuroleptika, die postsynaptische Dopaminrezeptoren blockieren, die Tics vermindern. Auch das noradrenerge System scheint beteiligt zu sein, worauf die Wirksamkeit des Alpha-2-Agonisten Clonidin hindeutet. Entsprechende Vermutungen bestehen auch für die cholinerge und die GABAerge Transmission.

Weiterhin können Umwelteinflüsse offenbar zum Ausbruch der Krankheit beitragen, zumindest mancher Formen. In Frage kommen etwa Infektionen mit beta-hämolysierenden A-Streptokokken: Allem Anschein nach können sie Tics oder Zwangssymptome auslösen oder verstärken. Dieser Effekt beruht vermutlich darauf, daß die Immunabwehr Antikörper gegen bakterielle Antigene bildet, die wiederum mit Antigenen im Gehirn kreuzreagieren. (ars)

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