Mutiertes SARS-CoV-2
Neue Coronavirus-Variante beunruhigt Virologen derzeit nicht
Viren mutieren und SARS-CoV-2 bildet da keine Ausnahme. Für die jetzt in England zirkulierende neue Variante gibt es aber kaum Belege, dass sie hochinfektiös wäre oder den Impfschutz reduzieren könnte.
Veröffentlicht:Neu-Isenburg. In der Bevölkerung von Südost-England breitet sich seit September eine neuartige Variante von SARS-CoV-2 aus. Diese ist durch mehrere Mutationen gekennzeichnet, die nach ersten Befunden für eine höhere Infektiosität sprechen könnten.
Die neue Variante sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form, hat der britische Premierminister Boris Johnson berichtet. Deutschland und viele weitere Länder haben deshalb den Flugverkehr mit Großbritannien gestoppt, um einer Einschleppung des Virus vorzubeugen.
Nach Expertenmeinung ist es aber unklar, ob die Variante überhaupt besonders gefährlich ist und ob sie den Impfschutz unterlaufen kann. Sie wurde zudem schon in mehreren anderen Ländern isoliert.
COVID-19-Pandemie
Sorge wegen neuer Coronavirus-Variante in England
Ungewöhnlich viele genetische Veränderungen
Nach den vorläufigen britischen Analysen verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein braucht das Virus bekanntlich, um an den Zellen des Infizierten anzudocken und in diese einzudringen.
In Corona-Impfstoffen, einschließlich der jetzt verfügbaren mRNA-Impfstoffe, dient das Protein als Antigen. Es wäre daher theoretisch möglich, dass durch ein verändertes Spike-Protein das Immunsystem nach der Impfung blind für den Erreger sein könnte.
Allerdings: Die verfügbaren Impfstoffe induzieren eine Immunreaktion gegen das gesamte Spike-Protein, so Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Einzelne Mutationen reichten nicht aus, um der komplexen Immunabwehr zu entgehen.
Über tatsächliche Auswirkungen der genetischen Veränderungen ist auch allgemein wenig bekannt. „Was man derzeit nicht weiß ist, ob irgendeine dieser Mutationen zu Veränderungen des Virus führt“, so Dr. Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM) im Gespräch mit der Presseagentur „dpa“. Veränderungen könnten etwa die Übertragbarkeit des Virus betreffen oder den klinischen Verlauf der Erkrankung.
Variante hat uns wahrscheinlich schon erreicht
Professor Christian Drosten aus Berlin geht davon aus, dass die neue Variante des Coronavirus unbemerkt Deutschland bereits erreicht hat. „Dieses Virus ist ja jetzt gar nicht so neu. Davon darf man sich jetzt wirklich nicht irgendwie aus der Ruhe bringen lassen“, so der Virologe.
Das veränderte Virus komme seit Ende September in England vor und sei im Oktober noch überhaupt nicht im Fokus gewesen. „Wir wissen jetzt: Es ist schon in Italien, in Holland, in Belgien, in Dänemark – sogar in Australien. Warum sollte es nicht in Deutschland sein?“, sagte der Virologe am Montag im Deutschlandfunk.
Zur neuen Variante sagte Drosten: „Ich bin darüber nicht so sehr besorgt im Moment. Ich bin allerdings auch – genau wie jeder andere – in einer etwas unklaren Informationslage.“ Die öffentlich bekannten Dokumente seien noch lückenhaft, das würden britische Wissenschaftler genauso sehen. „Die sagen auch, sie müssen zumindest mal noch bis diese Woche warten, bis ein paar vorläufige Datenanalysen abgeschlossen sind, um überhaupt zu sagen, dass der Verdacht, den sie da äußern, stimmt.“
Mit Blick auf erhöhte Infektionszahlen sei die Frage, ob überhaupt die neue Virus-Variante daran Schuld habe, „oder ist das so, dass einfach lokal (...) Übertragungsmechanismen zum Tragen gekommen sind, die auch jedes andere Virus hochgespült hätten.“
„Überwachung in Deutschland unzureichend“
In Deutschland fehlt offenbar auch ein leistungsfähiges Forschungsnetz, um die Entstehung und Verbreitung neuer Corona-Varianten zeitnah zu überwachen. Das SARS-CoV-2-Genomsequenzierungskonsortium (COG-UK) in Großbritannien sei hier vorbildlich, berichtet Privatdozent Dr. Roman Wölfel aus München in einer Mitteilung des Science Media Centers (SMC).
Dabei kooperieren Einrichtungen aus nationalen öffentlichen Gesundheitsinstituten, Organisationen des National Health Service, akademische Einrichtungen und das Wellcome Sanger Institute, so der Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr.
Ein solches Netz erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass neu auftretende Varianten zeitnah identifiziert und bewertet werden könnten. Und aus einer großen Zahl von Genomsequenzierungsdaten sowie einer abgeschätzten erhöhten Reproduktionszahl (R) um mindestens 0,4 lasse sich die geschätzte erhöhte Übertragbarkeit von bis zu 70 Prozent ableiten, so Wölfel in der Mitteilung. (mit Material von dpa)