Suchtkranke
Neue Leitlinien sollen zur Therapie motivieren
In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 74.000 Menschen an den Folgen eines schädlichen Alkoholkonsums, hinzu kommen 110.000 Tote durch Rauchen. Zwei neue Leitlinien sollen dabei helfen, Leben zu retten.
Veröffentlicht:BERLIN. Es sind Besorgnis erregende Zahlen: In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 74.000 Menschen an den Folgen eines schädlichen Alkoholkonsum, rund 110.000 Todesfälle sind auf das Rauchen zurückzuführen.
Ein großes Problem ist nach wie vor, dass viele Suchtkranke keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Das wollen nun zwei neue S3-Leitlinien ändern, die Anfang Februar von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin vorgestellt worden sind.
Senkung der Eingangsschwellen
In der Leitlinie "Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen" wird nun erstmals auch eine Reduktion des Alkoholkonsums bei Patienten mit Alkoholmissbrauch als wichtiges Therapieziel genannt.
Begründet wird dies mit Studien, nach denen nur etwa die Hälfte der behandlungsbedürftigen Personen mit Alkoholproblemen "trotz Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung nicht oder noch nicht bereit war, vollständig auf Alkohol zu verzichten", heißt es in der Leitlinie.
Bereits 2011 kam die entsprechende britische Therapieleitlinie des NICE zu dem Schluss, auch eine Reduktion der Trinkmengen als intermediäres Therapieziel für Alkoholabhängige anzuerkennen. Diesen Standpunkt vertritt inzwischen auch die EMA.
"Nach intensiver Diskussion schloss sich die Konsensusgruppe der S3-Leitlinie einstimmig diesem Vorschlag an. Wir hoffen, dass die damit verbundene Senkung der Eingangsschwellen deutlich mehr Menschen in eine Beratung und Behandlung führt als bisher", schreiben die Leitlinienautoren um Professor Karl Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
"Könnte die Inanspruchnahme von psycho- und pharmakotherapeutischen Angeboten von bisher 10 auf 40 Prozent der Betroffenen erhöht werden, ließen sich nach einer aktuellen Modellrechnung pro Jahr rund 2000 Menschenleben in Deutschland retten.".
Ein Schwerpunkt bei der Diagnostik von Alkoholstörungen bildet das Screening per Fragebogen. Die Leitlinie rät zum Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) oder, wenn für die zehn Fragen des AUDIT keine ausreichende Zeit zur Verfügung steht, zur Kurzversion mit drei Fragen (AUDIT-C).
In der Kurzversion wird nach der Häufigkeit des Alkoholkonsums in Tagen pro Woche, nach der durchschnittlichen Zahl der konsumierten alkoholischen Getränke und nach Tagen mit extrem hohem Konsum gefragt.
Bei der Therapie von Alkoholkranken soll eine Medikamenten-unterstützte qualifizierte Entzugsbehandlung statt einer reinen körperlichen Entgiftung angeboten werden.
Um die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie Entzugskomplikationen wie Deliren und Krampfanfällen zu vermeiden, werden primär Benzodiazepine empfohlen (Empfehlungsgrad A).
Rauchstatus systematisch abfragen
Um die Nikotinsucht einzudämmen, wird in der Leitlinie "Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums" allen Ärzten empfohlen, systematisch den Rauchstatus abzufragen.
Um die Stärke einer Tabakabhängigkeit festzustellen, erscheint den Leitlinienautoren um Professor Anil Batra von der Universität Tübingen der Fagerströmtest für Zigarettenabhängigkeit (FTCD) am besten geeignet.
Entwöhnungswilligen, aber ohne Unterstützung nicht entwöhnungsfähigen Rauchern sollen zunächst niedrigschwellige Angebote unterbreitet werden, vor allem eine Kurzberatung, motivierende Gespräche oder eine Telefonberatung.
Wird eine intensivere Therapie benötigt, ist die verhaltenstherapeutische Einzel- oder Gruppenbehandlung eine Option, eventuell plus Medikation. Bei ausgeprägter Entzugssymptomatik sind in jedem Fall Medikamente vorgesehen.
"Wenn eine Nikotinersatztherapie nicht wirksam sein sollte, soll nach Prüfung von Indikationen bzw. Kontraindikationen Vareniclin oder Bupropion angeboten werden", heißt es in der Leitlinie.
Bei Jugendlichen und Schwangeren wird jedoch von Medikamenten zur Entwöhnung abgeraten. Nach Vorstellung der Leitlinienautoren müsste die Tabakentwöhnung stärker in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen integriert werden.