Interview
"Neue Regularien filtern schlechte Studien schneller heraus"
Vom 10. bis 14. Oktober treffen sich Onkologen und Hämatologen zu ihrer Jahrestagung. Mit Sorge beobachten die Ärzte, dass die Auflagen für klinische Studien nochmals erhöht wurden, wie Tagungspräsident Professor Carsten Brokemeyer von der Uniklinik Hamburg-Eppendorf im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" sagt.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Wer soll mit dem diesjährigen Kongress angesprochen werden?
Professor Carsten Bokemeyer: Wir haben versucht, Ärzte, Wissenschaftler und Pflegende, Psychologen und andere und wiederum Ärzte aus allen Arbeitsbereichen - Niedergelassene, in Versorgungskrankenhäusern und in akademischen Krankenhäusern Arbeitende - einzubinden. Deshalb finden während der Tagung auch ein Pflegekongress, ein Studenten- und ein Patiententag statt.
Das Kongressprogramm habe ich gemeinsam mit Frau Professor Mascha Binder vom UKE organisiert.
Stellvertretender Kongresspräsident ist Professor Norbert Schmitz von der Asklepios-Klinik St. Georg in Hamburg, der dort von Professor Bertram Glaß unterstützt wird. Beide zeichnen vor allem für das Programm bei den Lymphomen verantwortlich.
Ärzte Zeitung: Die Tagung deckt auch in diesem Jahr eine breite Palette an Themen ab. Welchen Stellenwert nimmt dabei die Immuntherapie ein?
Professor Carsten Bokemeyer: Die Immuntherapie ist eines der beiden Hauptthemen und wird sowohl unter biologischen Grundlagenaspekten als auch unter dem Aspekt der klinischen Anwendung von deutschen und internationalen Wissenschaftlern beleuchtet.
Angewendet wird die Immuntherapie, die auch bei den Sitzungen zu den einzelnen Tumorentitäten zur Sprache kommen wird, in der Klinik bei Leukämien und beim Melanom, aber die aktuellen Studien umfassen viele weitere Tumorarten.
Grundsätzlich bildet das Programm des Kongresses die ganze Bandbreite des Faches Hämatologie und medizinische Onkologie ab, von den psychischen Aspekten und Survivorship bis zur Palliativmedizin und von der Molekularbiologie bösartiger Tumoren bis hin zu den neuesten Therapien.
Ärzte Zeitung: Bei welchen Tumorentitäten ist die Immuntherapie besonders vielversprechend?
Professor Carsten Bokemeyer: Man muss zunächst fragen, wie weit man den Begriff "Immuntherapie" heute wählen will. Sie begann natürlich schon mit den monoklonalen Antikörpern, bei denen es bis heute viele neue Entwicklungen gibt, die vor allem in der Lymphomtherapie und beim Mammakrzinom eine große Rolle spielen.
Aber die Immuntherapie hat sich weiterentwickelt zu Eingriffen in die spezifische Regulation des Immunsystems, vor allem in die Aktivität der Abwehr-T-Zellen. Bei diesen spezifischen T-Zellen wurden Kontrollpunkte entdeckt, über die die Aktivität der gegen den Tumor aktivierten T-Zellen gedrosselt wird.
Wenn man diese Schaltstelle im Immunsystem blockiert, wird die Aktivität der Killerzellen gegen Tumorzellen nicht mehr herunterreguliert, sodass die Immunzellen wieder effektiv gegen Tumoren sind. Als erstes ist das beim Melanom untersucht worden, was zur ersten Zulassung eines solchen neuartigen Wirkstoffs - eines "immune checkpoint inhibitors" - geführt hat.
Es handelt sich um den monoklonalen Antikörper Ipilimumab, der an das T-Zellantigen CTLA-4 bindet und es blockiert. Ein zweites Präparat, Nivolumab, das an einem etwas anderen Kontrollpunkt ansetzt, dem PD1-/PD1-Liganden-System, ist vielleicht sogar noch vielversprechender.
Mitte des Jahres ist der Antikörper in den USA - ebenfalls beim Melanom - zugelassen worden. Ganz neue Daten zeigen, dass PD1 Antikörper auch nach einer Chemotherapie beim Blasenkarzinom effektiv sind. Zudem gibt es erste ermutigende Daten beim Bronchial-, Magen-, Ovarial- und Mammakarzinom.
Ärzte Zeitung: Und wie steht es um die zelluläre Immuntherapie?
Professor Carsten Bokemeyer: Dazu gehört in erster Linie auch die Transplantation von allogenen Knochenmarkstammzellen, die seit Jahren sehr erfolgreich gegen Leukämie angewandt wird.
Neue Entwicklungen führen aber dazu, die aktiven T-Zellen als sogenannte CAR-T-Zellen zu modifizieren. Insgesamt rücken wir auf der Tagung nicht nur die Frage der Immuntherapie in den Mittelpunkt, sondern auch den Aspekt der Interaktion von Tumorzellen mit ihrer Umgebung im Organismus.
So gibt es ein spezielles Symposium über das "tumor microenvironment", in dem diskutiert wird, wie die Umgebung von Krebszellen, also neben den Immunzellen auch Fibroblasten und Zellen der Gefäße und die von ihnen abgegebenen Zytokine und Botenstoffe das Tumorwachstum beeinflussen und wie man an diesen Stellen therapeutisch eingreifen kann.
Ärzte Zeitung: In Hamburg wird es auch Diskussionen über die Realisierung hochwertiger klinischer Studien geben. Was sind die strittigen Punkte dabei?
Professor Carsten Bokemeyer: Die Entwicklung von klinischen Studien insbesondere im akademischen Bereich ist in den vergangenen Jahren aufgrund der europäischen Auflagen erheblich schwieriger geworden.
Die Auflagen auch finanziell voll abzubilden ist besonders schwer, wenn es sich um innovative Studien aus dem akademischen Bereich handelt, also die sogenannten "investigator initiated trials".
In solchen Studien werden zum Teil auch Medikamente eingesetzt, die zwar bereits zugelassen sind, wo aber eine Veränderung der Anwendung und Indikation ein komplettes Studienprotokoll mit sehr viel regulatorischem Aufwand, entsprechend teurerer Versicherung und Monitoring erfordert.
Dadurch sind die Kosten natürlich extrem gestiegen und können gerade im akademischen Bereich eben nicht von den Investigatoren aufgebracht werden. Darüber hinaus bestehen für übergreifende Studien dann in Europa immer noch unterschiedliche Genehmigungsverfahren und ein sehr unterschiedliches Verfahren im Umgang mit den Ethikkommissionen.
Vieles, was auf EU-Ebene für klinische Studien entwickelt worden ist, wurde nicht aus dem Blickwinkel onkologischer Studien entworfen, wo sich oft die Patienten finden, die eigentlich rasch auf neue Medikamente in einer unheilbaren Situation warten.
Ärzte Zeitung: Stehen in Deutschland ausreichende, auch finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung?
Professor Carsten Bokemeyer: In der Summe natürlich nicht. Denn der Aufwand für Studien bedeutet quasi eine Vollzeitbeschäftigung für den Studienleiter, der die Patienten betreut.
Nirgendwo ist abgebildet, dass es so ein hohes Maß an Finanzierungsbedarf für die Studiendurchführung gibt.
Ärzte Zeitung: Oft werben onkologische Fachärzte dafür, Krebspatienten in Studien einzuschleusen, weil sie da die beste Therapie erwartet. Was halten Sie davon?
Professor Carsten Bokemeyer: Das ist tatsächlich so. Wenn wir den Fortschritt in Studien dokumentieren wollen, weil wir an evidenzbasierte Medizin glauben und wissen, dass man nur so den Fortschritt wirklich beweisen kann, müssen möglichst viele Patienten in Studien eingebunden werden.
Aufgrund der genannten Regularien sind Patienten heute so gut abgesichert, dass sie in Studien so wenig wie nötig gefährdet werden und ihnen der größtmögliche Nutzen gewährt wird. Studien sind in der Onkologie ein wichtiger Teil der Versorgungsrealität, man denke nur an die großen nationalen Studien zu den Leukämien oder zum Morbus Hodgkin.
Die Patienten werden in Studien nach einem klaren, vorgegebenen Schema behandelt und unterliegen einer klaren, definierten und sehr gut kontrollierten Überwachung.
Alle Studien sind vor einem ärztlichen und einem ethischen Hintergrund geprüft. Schlechte Studien werden durch die neuen Regularien schneller herausgefiltert. Die Versorgung in Studien ist damit in der Regel gute Medizin.
Ärzte Zeitung: Sie wollen in Hamburg gerade junge Kollegen motivieren, sich für Forschung und Wissenschaft zu engagieren. Besteht denn ein akuter Mangel?
Professor Carsten Bokemeyer: Es gibt eine Reihe von Gutachten aus den letzten Jahren, so aus USA und aktueller auch aus Österreich und Deutschland dazu, wie viele Fachärzte für Hämatologie und internistische Onkologie für die langfristige Sicherung der Versorgung der Bevölkerung erforderlich sind.
Wenn wir die wissenschaftlichen Ergebnisse nutzen wollen, die die Grundlage von Studien sind, dann müssen viele Menschen in diesem Bereich arbeiten. In der Hämatologie und Onkologie sind die Verknüpfung von Grundlagenforschung und die Anwendung am Patienten im Sinne translationaler Forschung ungeheuer faszinierend.
Es ist ein tolles Fachgebiet, wo man biologische Grundlagen verstehen muss, um das Wissen bei Patienten anwenden zu können. Das macht einen Teil des Reizes aus, und das wollen wir auch auf dem Kongress vermitteln.
Auf der anderen Seite ist die Onkologie ein Fach, in der der Patient extrem von seiner Krankheit bedroht ist, und der Hämatologe und Onkologe muss damit immer äußerst empathisch und sensibel umgehen. Daraus resultiert oft eine Betreuung über lange Zeit.
Trotz abnehmender relativer Krebsinzidenz bei vielen Tumorentitäten - mit Ausnahme des Bronchialkarzinoms bei Frauen - rechnet man damit, dass bis 2020/25 insgesamt etwa 25% bis 30% mehr Experten als heute für die Versorgung dieser Patienten erforderlich sein werden.
Durch immer effektivere Behandlungen ist die Prävalenz von Krebs, d.h. die Anzahl der an Krebs erkrankten und chronisch betreuten Patienten immer größer und wenn man zudem berücksichtigt, dass durch neue Entwicklungen Patienten noch länger und effektiver behandelt werden können als bisher, dann wird der Bedarf noch weiter steigen.
Ärzte Zeitung: Die Zahl der Menschen mit Krebs steigt, nicht zuletzt wegen der sich umkehrenden Alterspyramide und den immer erfolgreicheren Therapien. Wie kann sich das Gesundheitswesen besser dieser Entwicklung anpassen?
Professor Carsten Bokemeyer:Im Bereich der sogenannten geriatrischen Onkologie gab es eine ganze Reihe von Studien und Entwicklungen in den letzten Jahren, die zeigen, dass ältere Menschen durchaus mit einem vernünftigen Nutzen eine onkologische Therapie erhalten können und sollten.
Diese Information müssen wir aus den Fachgremien, die sich um die Therapien kümmern, auch in den Bereich der Hausärzte und der allgemein versorgenden Ärzte tragen, damit ältere Krebspatienten überhaupt den onkologischen Fachärzten zugeführt werden können.
Ärzte Zeitung: Stichwort "personalisierte Medizin" in der Onkologie: Das funktioniert, doch wird das nicht auf lange Sicht zu teuer?
Professor Carsten Bokemeyer: Die Finanzierung im Gesundheitssystem ist eine Grundsatzfrage. Als jemand, der durch Forschungsaktivitäten und Fortbildungsaktivitäten weltweit vernetzt ist und in vielen Ländern mit verschiedenen Gesundheitssystemen in Berührung kommt, kann ich sagen, dass in Deutschland das Gesundheitssystem wirklich sehr gut ist.
Hier erhalten nahezu alle Patienten die beste verfügbare und sinnvollste Therapie. Personalisierung kann dazu führen, dass wir die Therapien immer detaillierter jeweils bei bestimmten Pateinten anwenden, die am besten davon profitieren.
Das kann auch unnötige Kosten sparen. Aber wir müssen den Menschen natürlich vermitteln, dass, wenn alle Vorteile einer modernen Medizin bis ins höchste Alter transferiert werden sollen, dieses natürlich nicht ohne Kosten sein kann. Da muss man gemeinsam auch im politischen Rahmen entscheiden, wie viel man bereit ist, dafür auszugeben.
Ärzte Zeitung: Welches Signal soll von der diesjährigen Tagung ausgehen?
Professor Carsten Bokemeyer: Die Hämatologie und Onkologie ist eine forschungsorientierte, aber doch praxisnahe medizinische Disziplin, die sehr aktiv und lebendig ist, die sich konstant weiterentwickelt, die damit sehr attraktiv für den ärztlichen Nachwuchs ist und die natürlich für die Versorgung der Krebskranken in Deutschland eine ganz wichtige Rolle spielt.
Onkologen sind schon lange trainiert als Teamplayer unter anderem mit Strahlentherapeuten, Chirurgen und Experten der organbezogenen Fächer, die Patienten gemeinsam führen, und sie bringen ihre spezifische Expertise für die neuen innovativen medikamentösen Therapiestrategien in das Behandlungsteam ein.
Ärzte Zeitung: Anhand welcher Kriterien werden Sie am Ende des Kongresses sagen: Er war ein voller Erfolg?
Professor Carsten Bokemeyer: Wir erwarten etwa 5500 Teilnehmer und werden sicher auch prüfen, welches Echo die verschiedenen spannenden wissenschaftlichen Beiträge auch in den Medien finden werden.
Außerdem schauen wir auf das Feedback der Teilnehmer. Gleichzeitig ist es uns sehr wichtig, die Chance zu nutzen, die wichtigen Entwicklungen in der Hämatologie und Onkologie auch der Bevölkerung darzustellen, damit die Menschen erfahren, was sich im Bereich Krebs tut, wie man Krebs vielleicht besser vorbeugen kann und welche Ärzte ihnen bei einer Krebserkrankung womit am besten weiterhelfen können.
Das Interview führte Peter Leiner; Quelle: Springer Medizin