Der Standpunkt

Nicht erfasste Grausamkeiten

Dr. Marlinde LehmannVon Dr. Marlinde Lehmann Veröffentlicht:

Marlinde Lehmann

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Dr. med. Marlinde Lehmann ist Ressortleiterin Medizin der "Ärzte Zeitung".

Schreiben Sie ihr: marlinde.lehmann@springer.com

"Ich habe alles Erdenkliche, alles in meiner Macht Stehende getan", ist eine gut klingende, beliebte Phrase. Sie stand erst kürzlich wieder beim "Welttag gegen Misshandlung älterer Menschen" ganz weit oben auf der Agenda.

Klar ist: Wer von Misshandlungen spricht, darf nicht nur an körperliche Grausamkeiten wie Schläge denken. Viel schlimmer sind seelische Misshandlungen, die aber - im Gegensatz zu körperlichen Misshandlungen - kaum dokumentiert werden (können).

Wer erfasst den Stress Demenz-Kranker, die plötzlich einen Hüftprotektor tragen? Wer nimmt die seelischen blauen Flecken wahr, wenn Angehörige zwar das Rauchen verbieten, sich aber nie sehen lassen? Wer weiß, wie viele Ältere die größte menschliche Grausamkeit erleben, nämlich Gleichgültigkeit?

Einen schier unglaublichen Spagat vollbringt hier etwa das Pflegepersonal in Heimen, das tagtäglich Gesetze, Normen sowie die Interessen der Heimbewohner und die davon oft abweichenden Interessen der Angehörigen unter einen Hut bringt.

Dabei wird auch das ein oder andere Mal ein unwirscher Ton angeschlagen - das ist zutiefst bedauerlich, aber oft auch dem enormen Druck, dem Pflegerinnen und Pfleger ausgesetzt sind, geschuldet. Gleichgültigkeit wäre die schlimmere Variante.

Der Satz "Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan", hat für professionell Pflegende, die sich Tag für Tag in die Pflicht nehmen, einen menschlichen Beigeschmack. Ganz anders sieht es aus, wenn dieser Satz von Menschen ausgesprochen wird, die selbst nie alte Menschen betreut oder gepflegt haben. Dann klingt "Ich habe alles Erdenkliche getan" eher wie "Ich habe mich regelkonform verhalten, mich im Zweifelsfall schriftlich abgesichert".

Daher: Werfen wir einen Blick in die Wohnungen, dort, wo diese Menschen leben, in die Zimmer der Bewohner in Heimen! Nehmen wir an deren Leben teil, um zu verstehen, dass Paragrafen und Dokumentionsbögen nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden! Wenn Pflege menschlich bleiben soll, dann dürfen Entscheidungen nicht nur am Schreibtisch getroffen werden.

Lesen Sie dazu auch: Gewalt gegen Alte: Täter oft Opfer der Überforderung

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Kommentare
Dr. Susanne Daiber 15.07.201118:01 Uhr

STress durch Hüftprotektor?

Sehr geehrte Frau Kollegin Lehmann,
Sie haben Recht mit Ihrer Ansicht, den Einzelnen zu sehen und nicht irgendwelche Vorschriften zu verfolgen. Bei Demenzerkrankten sind die Probleme immer sehr vielschichtig und individuell. Dass aber ein Hüftprotektor immer zu Stress führen muss, ist kein gelungenes Beispiel. Es gibt sehr viele Ältere, die diesen Protektor gut akzeptieren und damit klar kommen. Und die dadurch bei Stürzen profitieren. Natürlich gibt es auch Demenzpatienten mit Inkontinenz, die dann beim Toilettengang zusätliche Schwierigkeiten haben. Aber das Phänomen gibt es ja häufig, auch bei Blutdrucktabletten, die dem einen nützen und beim anderen zur Orthostase und Stürzen führen können.
Mit freundlichen Grüßen aus der Geriatrie Dr Susanne Daiber

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