Übergewicht
Schuldzuweisungen sind fehl am Platz
Familien dürfen beim Kampf gegen Übergewicht bei Kindern nicht allein gelassen werden. Mehr gesellschaftliches Engagement ist nötig.
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Anders als bei Adipositas von Erwachsenen, bei denen Deutschland im europäischen Vergleich einer der Spitzenreiter ist, liegt Deutschland bei Kindern mit Adipositas im Mittelfeld.
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Erst kürzlich hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung mitgeteilt, dass der Anteil übergewichtiger Kinder bei Einschulungsuntersuchungen in Deutschland in den letzten Jahren nicht mehr zugenommen hat. Darauf sollte sich aber niemand ausruhen, denn noch immer ist rund jedes zehnte Kind in Deutschland schon zu dick, wenn es gerade erst in die Schule kommt.
Anders als bei Adipositas von Erwachsenen, bei denen Deutschland im europäischen Vergleich einer der Spitzenreiter ist, liegt Deutschland bei Kindern mit Adipositas im Mittelfeld. Das zeigt die von Professor Wolfgang Ahrens vom Leipziger Institut für Präventionsforschung koordinierte I.Family-Studie, eine große EUgeförderte Studie zu Übergewicht bei Kindern zwischen 7 und 17 Jahren, die in Brüssel vergangene Woche ihren Abschluss fand.
Quoten in Italien über 40 Prozent
Die I.Family-Studie, für die Daten von 16.000 Kindern aus acht europäischen Ländern ausgewertet wurden, unterscheidet zwischen Familien mit hohem und niedrigem sozioökonomischen Status (SES). In Deutschland sind demnach in Familien mit hohem SES rund 15 Prozent der Kinder übergewichtig oder adipös, aber rund 25 Prozent in Familien mit niedrigem SES. In kaum einem anderen Land ist der Unterschied zwischen Familien mit hohem und niedrigem SES so ausgeprägt. In Italien liegen die Quoten sogar bei über 40 Prozent, sind dort aber weitgehend unabhängig vom SES. Auf der anderen Seite gibt es Länder wie Belgien und Schweden, wo die Quoten bei hohem SES bei unter 10 Prozent liegen.
Neben dem Europavergleich ist an der I.Family-Studie vor allem spannend, dass die Wissenschaftler sich bemüht haben, prädisponierende Faktoren für Übergewicht im Kindesalter zu identifizieren, die im Umkehrschluss Ansatzpunkte für Präventionsbemühungen geben könnten. So bewegen sich europäische Kinder beiderlei Geschlechts viel zu wenig: 60 Minuten körperliche Betätigung am Tag, sei es Sport oder draußen spielen, das erreicht im Mittel nicht einmal jedes dritte Kind.
Das Umfeld ist entscheidend
Herausarbeiten konnten die Experten auch, dass das Umfeld eine bedeutende Rolle spielt. Es mag Gene geben, die Übergewicht begünstigen, viel wichtiger sind aber äußere Faktoren.
So werden Kinder aus Familien, in denen während des Essens ferngesehen wird, eher übergewichtig, genauso Kinder, die in ihrem Kinderzimmer einen Fernseher haben und generell Kinder, die pro Tag mehr als eine Stunde fernsehen. Es kommt außerdem darauf an, was geschaut wird. So trinken Kinder, die mehr Privatfernsehen mit seinen zahlreichen Werbeunterbrechungen konsumieren, mehr Softdrinks, und zwar unabhängig von der Gesamtzeit des Fernsehkonsums.
Auch das soziale Umfeld und die Wohnumgebung bleiben nicht ohne Einfluss: Kinder, die sich in Kreisen bewegen, in denen Übergewicht normal ist, werden eher übergewichtig. Und wenn Freunde, Kameraden oder Eltern körperlich aktiv sind, steigt auch das Aktivitätsniveau der Kinder. Genauso, wenn im unmittelbaren Wohnumfeld der Kinder Radwege, Sportplätze oder Parks existieren.
Studienleiter Ahrens zieht aus all diesen Daten den Schluss, dass Familien nicht mit dem Thema Übergewicht allein gelassen werden dürfen. Die Einflussfaktoren seien so vielfältig, dass es nicht nur individueller, sondern auch gesellschaftlicher und politischer Anstrengungen bedürfe, soll die Übergewichtswelle nachhaltig gestoppt werden.
Das sieht auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) so, die die Adipositas zu einem Schwerpunktthema ihrer Jahrestagung in Mannheim machen wird. "Unter anderem müssen wir das Lebensmittelangebot gesünder gestalten, und wir müssen gesunde Entscheidungen erleichtern. Niemand ist ausschließlich selbst schuld", sagte Ernährungsexperte Professor Hans Hauner von der TU München. Professor Martina de Zwaan von der Medizinischen Hochschule Hannover kritisierte speziell die hohe Verfügbarkeit energiedichter Speisen und die ständig zunehmenden Portionsgrößen im Fast-Food-Bereich: Wer so mit Essen konfrontiert werde, müsse sich sehr stark willentlich kontrollieren. "Das kann nicht jeder. Impulsive Menschen sind da im Nachteil."
25%
der Kinder in Deutschland aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status (SES) sind übergewichtig oder adipös. In Familien mit hohem SES liegt diese Quote zehn Prozentpunkte niedriger.