Virtuelle Realität
Training mit virtuellem Arm stoppt Phantomschmerz
Sie steuern einen Rennwagen über die virtuelle Piste und drehen ihre Hand – das alles mit einem Arm, der gar nicht da ist. Forscher erproben, wie sie Menschen mit Amputationen vom Phantomschmerz befreien können, mit erstaunlichem Erfolg.
Veröffentlicht:GÖTEBORG. Ein Mann mit amputiertem rechtem Arm sitzt vor einem Bildschirm. Dort sieht er sich selbst in einer Videoaufnahme – allerdings mit zwei Armen, die er beide ganz normal bewegen kann.
Der virtuelle Arm wird in die laufende Aufnahme eingespielt. Dazu zeichnen Elektroden am Stumpf EMG-Signale auf, die ein Algorithmus in Bewegungsabläufe für den virtuellen Arm umrechnet.
Der Patient sieht sich also wie in einem Spiegel, nur mit zwei gesunden Armen. Und das hilft, Phantomschmerzen massiv zu lindern.
Vorstellungskraft und Spiegeltherapie
Solche Ansätze sind im Prinzip nicht neu. Allein die Vorstellung, einen gesunden Arm zu haben und diesen zu bewegen, kann bei vielen Patienten den Phantomschmerz lindern.
Noch besser klappt dies mit der Spiegeltherapie: Hier wird der gesunde Arm mit einem Spiegel auf die andere Seite projiziert. Bewegt er sich, täuscht er einen zweiten Arm vor. Solche Übungen verhindern vermutlich eine "zentralnervöse Malplastizität" im sensomotorischen Kortex sowie seinen Verbindungen.
Ein derartiger Umbau im Gehirn nach einer Amputation wird als wesentliche Ursache für Phantomschmerzen angesehen, berichtet eine schwedisch-slowenische Arbeitsgruppe um Dr. Max Ortiz-Catalan von der Universität in Göteborg (Ortiz-Catalan M et al. Phantom motor execution facilitated by machine learning and augmented reality as treatment for phantom limb pain: a single group, clinical trial in patients with chronic intractable phantom limb pain. The Lancet 2016; epub 1.12.2016, doi: 10.1016/S0140-6736(16)31598-7).
Allerdings gibt es deutliche Unterschiede bei der Aktivierung neuronaler Netze, wenn man sich eine Bewegung nur vorstellt und wenn man sie tatsächlich ausführt. Die Aktivierung motorischer Schaltkreise sollte daher einer natürlichen Bewegung am nächsten kommen und den schadhaften Umbau im Gehirn am wirkungsvollsten verhindern.
Illusion eines Armes erzeugen
Das Team um Ortiz-Catalan hat sich daher ein Verfahren ausgedacht, mit dem über EMG-Signale am Stumpf ein virtueller Arm so gesteuert wird, als sei er real. Das visuelle Feedback über ein Augmented-Reality-System soll zudem die Illusion eines vollständigen Körpers erzeugen und auf diese Weise die alten Netze erhalten oder wiederherstellen.
Für das Verfahren erzeugt eine gewöhnliche Webcam im Monitor eine Aufnahme des Patienten. Am Stumpf wird eine sogenannte Passermarke befestigt, eine kleinen Platte mit einem Schwarzweißmuster. Sie wird von der Kamera erfasst und liefert die genaue Position des Stumpfs.
In der Aufnahme ersetzt ein Algorithmus die Marke schließlich durch den virtuellen Arm. Auf diese Weise wird der Arm stets in der korrekten anatomischen Position wiedergegeben.
Die Patienten trainieren anschließend mit einem selbstoptimierenden Programm, EMG-Signale am Stumpf in eine dreidimensionale Steuerung des Arms zu übersetzen. Mit der Zeit können sie den virtuellen Unterarm sowie die Hand in alle Richtungen drehen. Es gelingt ihnen zudem, die virtuelle Hand gezielt zu öffnen und zu schließen.
Weniger Schmerzmittel erforderlich
Für einen Therapieversuch konnten die Forscher um Ortiz-Catalan 14 Patienten nach Armamputation gewinnen. Sie hatten trotz konventioneller Behandlung, etwa mit Spiegeltherapie und TENS, hartnäckige Phantomschmerzen. Vier Patienten benötigten zum Teil sehr hohe Dosierungen von Gabapentin, Pregabalin oder Opioiden.
Die Patienten trainierten über sechs Wochen hinweg zweimal pro Woche für etwa zwei Stunden mit dem System. Dabei sollten sie unter anderem vorgegebene Positionen mit dem virtuellen Arm nachvollziehen und einen Rennwagen in einem Computerspiel steuern.
Im Schnitt lag die Amputation der Patienten zehn Jahre zurück und die Schmerzstärke zu Beginn im Mittel bei fünf von maximal 10 Punkten auf einer numerischen Skala. Nach den zwölf Anwendungen war der Phantomschmerz auf der Skala um rund ein Drittel zurückgegangen.
Starker Rückgang der Schmerzen
Die Skala bewertet jedoch nur den momentanen Schmerz, die Forscher verwendeten daher auch Instrumente, die die Schmerzverteilung, die Häufigkeit von Schmerzattacken und die mittlere Schmerzintensität über die Zeit hinweg erfassten. Damit ließ sich recht konsistent ein signifikanter Rückgang der Schmerzen um etwa 50% nachweisen.
Bei praktisch allen Patienten hatten die Schmerzen Alltagsaktivitäten und Schlaf massiv behindert. Solche Behinderungen gingen jeweils um 43 und 61% zurück – die Betroffenen konnten also wieder viel besser schlafen. Zwei von vier Patienten reduzierten ihre Schmerzmedikation um über 80%.
Nach dem Training untersuchten die Studienärzte die Patienten regelmäßig über sechs Monate hinweg. Bei den meisten Schmerzparametern blieben die Werte in dieser Zeit konstant oder stiegen nur geringfügig wieder an.
Bei Patienten mit langjährigen und ausgeprägten Phantomschmerzen, denen sonst nichts mehr hilft, gehen die Schmerzen mit dem neuen Verfahren um etwa die Hälfte zurück, folgern die Wissenschaftler um Ortiz-Catalan. Sie vermuten, dass ein kontinuierliches Training noch bessere Resultate erzielen könnte.
Zu beachten ist jedoch die kleine Patientenzahl ihrer Studie und das offene Design. Die Resultate sollten folglich in einer größeren, randomisierten Studie überprüft werden.