Antikoagulation
Übersehener Faktor senkt Blutungsrisiko
Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Bei Mäusen mit (experimentellem) Schlaganfall scheint eine wirksame Antikoagulation ohne erhöhtes Blutungsrisiko bereits zu funktionieren. Der Weg in die Klinik ist aber noch weit.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Um das ferne Ziel der Antikoagulation ohne verstärkte Blutungsneigung zu erreichen, beschäftigen sich derzeit Forscher mit dem Gerinnungsfaktor XII (Hageman Faktor) des intrinsischen Arms der Blutgerinnungskaskade.
Faktor XII ist in vivo entbehrlich für die Thrombusbildung und ein hereditärer Mangel verstärkt nicht die Blutungsneigung. Daher wurde seine Bedeutung lange übersehen, erläuterte Christoph Kleinschnitz von der Neurologischen Universitätsklinik in Würzburg.
Was die Forscher aufhorchen ließ, war ein Befund im Mausmodell: Faktor-XII-Knock-out-Mäuse zeigen eine verringerte Thrombusbildung bei normaler Hämostase.
In eigenen Untersuchungen mit einem transienten Verschluss der Arteria Cerebri media dieser Mäuse als gängigem Modell einer zerebralen Ischämie schien der Faktor-XII-Mangel vor den Folgen einer Ischämie zu schützen: Die Mäuse wiesen deutlich weniger funktionelle Beeinträchtigungen auf als Wildtypmäuse mit intakter Faktor-XII-Synthese.
Auch das Infarktvolumen im Gehirn war verkleinert, gleichzeitig wurde bei den Knock-out-Mäusen in keinem Fall eine Blutung beobachtet.
Die Gabe von humanem Faktor XII hob den Effekt der Faktor-XII-Defizienz wieder auf und führte zu einem Schlaganfallvolumen vergleichbar wie beim Maus-Wildtyp (J Exp Med 2006; 203: 513).
Inhibitor aus der Natur
Dass sich der Faktor XII durch ein entsprechendes Agens spezifisch hemmen lässt, zeigten die Forscher mit Infestin-4, einem Inhibitor, der aus der Raubwanze Triatoma infestans isoliert worden war.
Auch mit diesem Faktor-XII-Inhibitor ließ sich das Infarktvolumen im Mausmodell verringern, ohne dass es zu einem erhöhten Blutungsrisiko kam (Circulation 2010; 121: 1510).
Andere Prüfsubstanzen zeigten weniger eindeutige Ergebnisse, zum Beispiel ein Faktor-XII-Antikörper. "Die Ursache dafür ist noch unklar", so Kleinschnitz.
Rolle beim Mensch?
Die Untersuchung der Bedeutung von Faktor XII beim Menschen gestaltet sich schwieriger: Personen mit einer Faktor-XII-Defizienz sind unauffällig und schwierig zu identifizieren.
Bei den Fallserien, die bekannt sind, ließ sich kein besonderer Phänotyp feststellen, auffällig war höchstens eine leicht erhöhte partielle Thromboplastinzeit (PPT).
Daten zu Schlaganfallhäufigkeit und Schwere bei diesen Patienten sind widersprüchlich. Möglicherweise besteht eine U-förmige Beziehung zwischen Faktor-XII-Konzentration und Thromboembolien, mutmaßt Kleinschnitz.
In eine Würzburger Untersuchung mit gesunden Kontrollen sowie Patienten mit akutem Schlaganfall oder transienten ischämischen Attacken (TIA) sowie mit chronisch vaskulären Erkrankungen war ein relativ hoher Faktor-XII-Spiegel bei Aufnahme nicht assoziiert mit einem Schlaganfall.
Personen, die eine Defizienz des Faktors XI haben - des Gerinnungsfaktors, der dem Faktor XII nachgeschaltet ist - haben eine leichte hämorrhagische Diathese und sind leichter zu identifizieren.
Es gibt Indizien, die zeigen, dass diese Menschen ein verringertes ischämisches Schlaganfallrisiko haben, das Herzinfarktrisiko aber gleich bleibt (Blood 2008; 111: 4113).
Das passt ganz gut zu experimentellen Daten aus der Maus, sagte Kleinschnitz. Es gibt einen aktiven Rückkopplungsmechanismus vom Thrombin zum Faktor XI, sodass Faktor XI-defiziente Menschen vermehrt bluten.
Hypothese zum Wirkmechanismus
Diese Rückkopplung gibt es beim Faktor XII nicht.
Man stellt sich derzeit vor, dass Faktor XII einen selektiven Weg aktiviert, der eine pathologische, überschießende Thrombusbildung nach einem Stimulus, zum Beispiel einem Schlaganfall, verhindern kann, aber andere redundante Aktivierungswege nicht in dem Maße blockiert, dass es zu massiven Blutungen kommt.
Derzeit werden die Untersuchungen in Tiermodellen und mit spezifischen Substanzen wie dem Infestin-4 fortgesetzt. (fk)