Zuckergipfel

Warum nicht auch einen Brötchen-, Pasta-, Kartoffel- oder Reisgipfel?

Eine einfache Formel dominiert zurzeit die Diskussion um die Prävention von Adipositas und Diabetes: Weniger Zucker in Nahrungsmitteln führe zur weniger Erkrankungen und weniger Kosten. Diese Fokussierung ist aber bei Weitem zu kurz gedacht.

Von Professor Stephan Martin Veröffentlicht:
Stärke landet schnell als Glukose im Blut.

Stärke landet schnell als Glukose im Blut.

© Strk / stock.adobe.com

Eine Woche vor dem G20-Gipfel wurde mit großer Pressebeteiligung ein weiterer Gipfel ausgerichtet: der 1. Deutsche Zuckergipfel. Dabei hat eine große Krankenkasse darauf hingewiesen, dass viele Nahrungsmittel enorme Mengen an Zucker enthalten, der für die Entwicklung von Übergewicht und Fettsucht verantwortlich sei. Das übermäßige Gewicht wiederum führt zu vielen Erkrankungen wie zum Beispiel Typ-2-Diabetes, der das Gesundheitssystem mit vielen Milliarden Euro belastet. Die einfache Formel der Lösung: weniger Zucker in den Nahrungsmitteln, folglich weniger Erkrankungen und Kosten. Doch stimmt dies wirklich?

Übermäßiger Zuckergehalt in der Ernährung ist eindeutig schlecht, und es ist unumstritten, dass eine deutliche Reduktion des Zuckerkonsums angestrebt werden muss. Vor allem versteckte Zucker in Fertiggerichten, Saucen und insbesondere in Getränken sollten dringend reduziert oder zumindest deutlicher deklariert werden. Jedoch ist die Fokussierung auf einen Faktor bei Weitem zu kurz gedacht.

Der angeprangerte Haushaltszucker besteht aus je einem Molekül Glukose und Fruktose. Die Gewichts-erhöhende Wirkung des Haushaltszuckers wird primär durch Glukose-induzierte Insulinausschüttung ausgelöst. Insulin senkt nämlich nicht nur den Blutzucker, sondern blockiert auch die Fettverbrennung. Das heißt, wenn jemand hofft, durch abendliches Joggen seine Fettverbrennung anzukurbeln und danach die verlorenen Elektrolyte durch ein alkoholfreies Weizen zurückholt, erreicht er durch die Kohlenhydrate aus dem Bier eine Insulinausschüttung und ein abruptes Ende der Fettverbrennung.

Stärke wird in Sekunden zu Glukose abgebaut

Je übergewichtiger jemand ist, umso stärker ist die Insulinausschüttung, wie eine aktuelle Analyse sehr schön belegt (PLoS One. 2016; 11(3): e0150803). Im Vergleich zu Normalgewichtigen führte eine Stimulation mit unterschiedlichen Glukosemengen zu einer 2,8- bis 4,5-fach höheren Insulinsekretion. Aber auch schon im Nüchternzustand lagen die basalen Insulinspiegel bei Adipösen signifikant höher als bei den Normalgewichtigen. Das bedeutet, wer adipös ist, hat schon im Nüchternzustand eine schlechtere Fettverbrennung und blockiert diese noch weiter, wenn er auch nur kleine Mengen Glukose konsumiert. Daher stellt sich zum einen die Frage, warum Normalgewichtige auf Zucker verzichten sollen? Zum anderen fragt man sich, ob nur der Haushaltszucker die Insulinausschüttung auslöst?

Bekannterweise besteht auch Stärke, die in vielen Sättigungsbeilagen wie Backwaren, Kartoffeln, Nudeln oder Reis enthalten ist, aus vielen aneinandergereihten Glukosemolekülen. Kommen diese in den Gastrointestinaltrakt, werden sie in Sekunden in pure Glukose gespalten. Kartoffelbrei und viele andere stärkehaltige Nahrungsmittel – hier empfiehlt sich ein Blick in eine Tabelle – haben einen höheren glykämischen Index als Zucker! Somit muss man nicht nur vor Haushaltszucker, sondern auch vor Brötchen, Nudeln, Kartoffeln und Reis warnen.

Falsche Anreize für Krankenkassen

Sind den Initiatoren des Zuckergipfels diese Zusammenhänge nicht bekannt oder nutzt man das "postfaktische" Zeitalter, um schnell einen Schuldigen zu finden und von eigenen Fehlern abzulenken? Warum wird in den von den Krankenkassen bezahlten und zum Teil sogar selbst durchgeführten Ernährungsberatungen mehr als 50 Prozent der Energiezufuhr in Form von Kohlenhydraten empfohlen?

Wenn es um manifeste Erkrankungen geht, wird der überwiegende Teil der gesetzlichen Krankenkassen ziemlich einsilbig. Die meisten lehnen bisher eine Finanzierung von wissenschaftlich evaluierten Lebensstil-Interventionsprogrammen, wie das kürzlich von uns publizierte Telemedizinische Lifestyle Programm bei Typ-2-Diabetes (Diabetes Care 2017; 40: 863) ab. Zum Teil verweisen sie auf eigene bisher nicht wissenschaftlich evaluierte Programme. Zum anderen scheinen die finanziellen Anreize im Risikostrukturausgleich eine Rolle zu spielen. Es ist ja auch verständlich, dass man von Kassenseite vor der Finanzierung von Programmen zurückschreckt, die im Extremfall dazu führen, dass der Betroffene seinen Typ-2-Diabetes besiegt. Denn gelingt es einem Patienten mit Typ-2-Diabetes, durch eine dramatische Gewichtsabnahme von einer Insulintherapie wegzukommen, verliert die Krankenkasse die sogenannte HMG20, eine Insulinkopfpauschale von 2249 Euro, die der Risikostrukturausgleich seit Jahren vorsieht. Kommt der Typ-2-Diabetes sogar in eine klinische Remission, wie es englische Forscher zeigen konnten (Diabet Med. 2015; 32: 1149), dann geht zudem die komplette Zuwendung für das DMP Typ-2-Programm "flöten".

Die dem steigenden Gewicht zugrunde liegenden Ursachen sind vielschichtig. Sich nur ein Nahrungsmittel vorzunehmen und als alleinigen Schuldigen anzuprangern, wird der Gesamtproblematik nicht gerecht. Es birgt sogar die Gefahr, dass man sich hinter dieser einzigen Maßnahme versteckt und die anderen Ursachen über Jahre vernachlässigt werden. So hat man in den 1970er Jahren mit der weltweiten Verteufelung von Fetten versucht, das Problem der Atherosklerose in den Griff zu bekommen. Heute wissen wir, dass diese evidenzfreie Empfehlung nichts an der Entwicklung der Atherosklerose gemacht hat. Sie hat vielmehr dazu beigetragen, das weltweite Körpergewicht in die Höhe zu treiben. Wenn man schon einen Zuckergipfel veranstaltet, dann sollte man auch über Brötchen-, Pasta-, Kartoffel- oder Reisgipfel nachdenken!

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

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