„Wo bleibt da der Mensch?“

Professor Thomas Bohrer: Der Philosoph am Krankenbett

Chirurg Thomas Bohrer fragte sich, wo der Mensch bleibe in einer rein naturwissenschaftlich geprägten Medizin. Vor über einem Jahrzehnt gründete er deshalb das „Würzburger Philosophicum für Mediziner“.

Michaela SchneiderVon Michaela Schneider Veröffentlicht:
Professor Thomas Bohrer zusammen mit Medizinstudent Valentin Metzner, der im 16-köpfigen Team des WürzburgerPhilosophicums mitarbeitet.

Professor Thomas Bohrer zusammen mit Medizinstudent Valentin Metzner, der im 16-köpfigen Team des Würzburger Philosophicums mitarbeitet.

© Michaela Schneider

Würzburg/Kulmbach. Eigentlich ist Professor Thomas Bohrer Leitender Arzt der Klinik für Thoraxchirurgie am Klinikum Kulmbach. „Nebenbei“ aber beschäftigte er sich immer schon auch mit der Philosophie; mehr noch – er hat einen Mastergrad im geisteswissenschaftlichen Fach erworben. „Medizinstudenten sprachen mich dann an und meinten: Thomas, Du sagst oft so Spannendes am Krankenbett, so Philosophisches. Mach daraus doch eine Vorlesung.“ Geboren war die Idee zum Würzburger Philosophicum für Mediziner.

Das Fach Medizin werde immer komplexer, differenziere sich immer weiter aus, das geistige Band zwischen den Fächern aber fehle, sagt der 55-Jährige und schiebt die Frage hinterher: „Wo bleibt da der Mensch?“ Im inzwischen zwölften Jahr geht es nun im Würzburger Philosophicum etwa um Fragen der Künstlichen Intelligenz, der Gendermedizin oder im aktuellen Semester um „Das Prinzip Verantwortung: Ökologie und Medizin“, erstmals als hybride Veranstaltung. Vergleichbare Formate gibt es laut Bohrer in anderen Städten bislang nicht, auch Studierende anderer Unis können sich zuschalten, dafür gebe es CME-Fortbildungspunkte.

Medizin ist Allroundwissenschaft

„Wenn Verantwortung ins Spiel kommt „Sapere aude! Vom Wissen zum ärztlichen Handeln in der Klimakrise“, „Von der Tropenmedizin zur planetaren Gesundheit“ oder auch „Philosophische Aspekte zum Begriff der Natur und ihre Bedeutung für uns heute“ sind einzelne Vorträge in den kommenden Wochen jeweils donnerstags um 18 Uhr c.t. etwa überschrieben. „Ich kann die Natur als Instrument sehen und meinen, sie unter Kontrolle zu haben. Sage ich dagegen, ich muss unglaublich aufpassen auf sie, kommt Verantwortung ins Spiel“, sagt Bohrer. Beide Haltungen beeinflussten auf ihre Art die Medizin.

Fragestellungen im „Philosophicum für Mediziner“ können medizinethischer, aber auch wissenschaftstheoretischer, methodologischer oder wissenssoziologischer Natur sein. Sie sollen anregen, medizinisch relevante Aspekte aus philosophischer und ethischer Sicht zu reflektieren.

Neu ist die Idee zu einem Philosophicum keineswegs, bis 1861 mussten Medizinstudenten im damaligen Preußen eine philosophische Prüfung als Vorprüfung ablegen. Dann kam es zum Paradigmenwechsel, seither wird Ärzten das naturwissenschaftlich- und faktenorientierte Physikum abgenommen. Das Gros der Mediziner habe sich gefreut, nur zwei Philosophen sagten laut Bohrer schon in den 1860er Jahren als Folge die drohende Ökonomisierung des Gesundheitssystems voraus. Der Mensch werde von den modernen Naturwissenschaften in eine Art Baukastenmodell zerlegt, das Phänomen des Lebendigen könne man damit nicht erklären, so Bohrer.

Immerhin, seit 2003 ist Medizinethik neben der Medizingeschichte und -theorie Bestandteil des Pflichtstudiencurriculums. Sehen, wie es gelingt, die Humanität zu bewahren.

Organisiert von 16-köpfigem Team

Organisiert wird das Würzburger Philosophicum inzwischen von einem 16-köpfigen Team, dessen Altersdurchschnitt bei 30 Jahren liegt. Auch Valentin Metzner, Medizinstudent im neunten Semester, arbeitet mit. Es gehe für ihn um Antworten auf Fragen, die nicht leicht zu greifen seien und die er für sich allein nicht lösen könne. Er erzählt auch vom Widerspruch zwischen den Erwartungen als Medizinstudent und der Realität im Arztalltag; und der Wichtigkeit zu sehen, dass es Kollegen dennoch gelinge, Humanität am Krankenbett zu bewahren. „Die Medizin ist ein Riesenfach, eine Allroundwissenschaft. Das kann einen jungen Arzt überwältigen“, sagt Bohrer. Entsprechend wichtig sei es, auch ein anderes, über das Naturwissenschaftliche hinausreichendes Denken zu lehren, um den Menschen als lebendiges Wesen mit einem einmaligen Lebensverlauf wahrzunehmen und dem Humanitätsgedanken gerecht zu werden.

Philosophie soll Freude machen, wir wollen motivieren und uns abheben vom Routinebetrieb.

Professor Thomas Bohrer Chirurg und Leiter des Philosophicums

Daraus ergäben sich etwa Fragen der Kommunikation. Gleicher Tumor, gleiche Op. Doch im einen Fall geht es um eine junge Frau, in einem anderen Fall um eine 85-jährige Patientin. „Die völlig andere Lebensgeschichte fordert eine ganz andere Herangehensweise“, veranschaulicht Chirurg Bohrer. Doch tatsächlich differenziert werde viel zu selten. Verpflichtend würde der 55-Jährige die Philosophie nicht ins Medizinstudium integrieren wollen. „Philosophie soll Freude machen, wir wollen motivieren und uns abheben vom Routinebetrieb“, sagt er. Nachahmer an weiteren Universitäten würde er sich aber wünschen.

Weitere Informationen: https://bit.ly/3H4LHE0

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