Arbeiten, wo sonst nur die Pinguine leben
Der südlichste Arbeitsplatz des öffentlichen Dienstes ist alles andere als kuschlig warm. Dr. Ursula Stüwe, heute Landesärztekammerpräsidentin in Hessen, hat dort bis zu minus 42°C erlebt, warm waren bereits Temperaturen von minus 2°C.
Veröffentlicht:Die Rede ist von der Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis, der einzigen ganzjährig besetzten Station Deutschlands auf dem Kontinent. Ursula Stüwe hat sie von Dezember 1999 bis Februar 2001 geleitet. Und um es gleich zu sagen: Gefroren hat sie nicht. "Alle Finger und Zehen sind noch dran!", sagt sie im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" und lächelt. Man müsse sich halt warm anziehen.
"Es war an der Zeit, mal etwas anderes zu machen"
52 Jahre alt war die Unfallchirurgin von den Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken in Wiesbaden damals und fand, es sei Zeit, mal etwas anderes zu machen. Als sie eines Tages einmal mehr frustriert von der Arbeit nach Hause gekommen war, las sie eine Anzeige, mit der eine Ärztin/ein Arzt für die Forschungsstation gesucht wurde. Sie bewarb sich sofort - und wurde genommen. So ganz spontan war die Entscheidung für die Antarktis jedoch nicht. Schon lange war sie fasziniert von dem Kontinent. Warum, kann sie auch nicht so recht sagen. "Ich habe mir einfach einen Traum erfüllt."
Im Winter ist das Team acht Monate auf sich allein gestellt
Wer sich für das Überwintern in der Antarktis entscheidet, muss sich darüber klar sein, dass die kleine Gruppe von Menschen - mit Ursula Stüwe waren es neun Wissenschaftler und Techniker - acht Monate lang völlig auf sich allein gestellt ist. Vom Packeis eingeschlossen ist die Station weder mit Schiffen noch mit Flugzeugen in dieser Zeit zu erreichen - die Hydraulik würde wegen der niedrigen Temperaturen versagen. Im antarktischen Sommer dagegen, wenn bis zu 49 Personen die Station bevölkern, wird es eng. Da ist soziale Kompetenz gefragt. Und eine starke Führungspersönlichkeit - das sagt Ursula Stüwe allerdings nicht.
Immerhin hatte sie dort Kapitänsrecht. Denn die Forschungsstation gilt juristisch als Schiff. Ehen wurden allerdings nicht geschlossen und Konflikte wurden in der Gruppe gelöst. "Es war eine gute Gruppe", sagt sie heute über die "Üwis", die Überwinterer. Ursula Stüwes Aufgaben bestanden vor allem in der Bewältigung der üblichen Bürokratie, organisatorischen Aufgaben, der Kontrolle des Trinkwassers, das aus dem Eis gewonnen wurde sowie Kontakt zu halten "nach draußen", also zum Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven als Betreiber der Station sowie zur Presse. Ärzte werden für diese Aufgaben bevorzugt genommen, weil sie in ihrem eigentlichen Metier, verglichen mit Wissenschaftlern und Meteorologen, am wenigsten zu tun haben.
Für die medizinische Arbeit steht in der Neumayer-Station ein kleines, aber feines Container-Hospital zur Verfügung mit Op-Tisch, Röntgen, Sonographie und einer reichlichen Auswahl an Medikamenten (bis hin für den seltenen Fall einer malignen Hyperthermie!).
Vor allem zahnärztliche Aufgaben galt es zu meistern
Gebraucht hat Ursula Stüwe jedoch vor allem einen handlichen Metallkoffer mit den Ausrüstungsgegenständen eines Zahnarztes. Zahnkanten glätten, herausgefallene Füllungen erneuern und Parodontosen behandeln, das waren die häufigsten medizinischen Eingriffe, die sie zu bewältigen hatte. Stolz ist sie auf eine gelungene Zahnextraktion. Da hatte sich die Hospitation bei zwei Zahnärzten in der dreimonatigen Vorbereitungsphase auf den Antarktis-Einsatz gelohnt. Eine luxierte Schulter eines jungen, sportlichen Kollegen konnte sie trotz Stromausfalls und sehr beengter Verhältnisse in einem Raum außerhalb der Zentralstation wieder einrenken. "Die wurde dann mit 40 000 Jahre altem Blaueis nachbehandelt."
Die brenzligste Situation und den anstrengendsten Einsatz hatte sie bei der Evakuierung eines norwegischen Seemanns mit schwerer Gehirnerschütterung. Die Verletzung war 350 km östlich der Neumayer-Station passiert, eine Evakuierung ins südafrikanische Kapstadt wegen fehlenden Flugzeugtreibstoffs nicht möglich. "Damit blieb nur die Möglichkeit, ihn über den Südpol zu evakuieren", erzählt Ursula Stüwe.
Schnell wird die Grenze des medizinisch Machbaren erreicht
In einem schmalen Propellerflugzeug, in dem man nicht aufrecht stehen konnte, ohne Toilette, ohne Beatmungsgerät, mit einem instabilen, unruhigen Patienten machte sie sich auf Reise. "Ich konnte ihn wegen des fehlenden Beatmungsgeräts nicht tief sedieren. So habe ich acht Stunden neben ihm gesessen und ihn festgehalten. Danach war ich fix und fertig, zumal der zweite Teil des Fluges in über 4000 Meter Höhe stattfand, und das ohne Druckausgleich!" Doch alles ging gut, der Seemann wurde später wieder ganz gesund.
Der Vorfall zeigt, wie schnell unter Extrembedingungen die Grenzen des medizinisch Möglichen erreicht sind. "Wenn dort jemand hinfällt, sich eine Rippe bricht und die Milz verletzt, ist das ein Todesurteil!", sagt die Chirurgin. Schockbehandlung, operieren, Blut stillen und zugleich die Narkose leiten, das ist trotz aller vorhandener Ausstattung für einen Arzt allein kaum möglich. Deshalb ist es wichtig, selbst gesund zu sein. US-Forscher mussten 1999 bis 2001 dreimal schwer erkrankte Ärzte unter dramatischen Bedingungen vom Südpol evakuieren.
Angst hat Ursula Stüwe in den 14 Monaten in der Antarktis nie gehabt, nicht zuletzt wegen der gründlichen Vorbereitung und der strengen Auswahlkriterien für alle Teilnehmer der Expedition. Sie hat die Zeit dort genossen, weiß jetzt, wie viele Farben und Formen Eis haben kann, ist mehr denn je eingenommen von der Landschaft, den Pinguinen, den Luftspiegelungen und Polarlichtern, aber auch der unglaublichen Stille der Antarktis. Nur Überwintern würde sie dort nicht noch einmal.
Die Neumayer-Station
Die Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung der Helmholtz-Gesellschaft befindet sich 70°39' südlicher Breite und 8°15' westlicher Länge in der Atka-Bucht des Weddell-Meeres in der Antarktis. Sie steht auf 200 m dickem Schelfeis. Benannt ist sie nach Georg von Neumayer (1826-1909), einem Förderer der Südpolarforschung. Die derzeitige Station besteht seit 1992, im Moment wird "Neumayer III" errichtet, denn Schneelast und Eisbewegung machen alle paar Jahre Neubauten erforderlich. Aufgaben sind etwa geophysikalische Messungen von Erdbeben und des Erdmagnetismus, der Luftverschmutzung und der Treibhausgase, die Beobachtung des Ozonlochs und Eiskernbohrungen zur Erforschung der Klimageschichte. Die Ozeane werden akustisch beobachtet, etwa um Auswirkungen des von Menschen verursachten Lärms auf Wale und Robben zu registrieren. Die Station ist ganzjährig besetzt, im Winter mit neun bis zehn Personen, im Sommer mit bis zu 49 Personen. Das Klima ist kalt, sehr trocken und windig bei Temperaturen zwischen minus 2 und minus 48°C.
(ner)