Ig-Nobelpreis
Augenzwinkern und Welt verbessern
Die Forschungsergebnisse, für die alljährlich der Ig-Nobelpreis vergeben wird, reizen oft ordentlich die Lachmuskeln – und regen dann zum Nachdenken an. Manches Ergebnis ist mittlerweile im kollektiven Gedächtnis vorhanden. Eine Übersicht, was bisher ausgezeichnet wurde.
Veröffentlicht:Wussten Sie, dass eine Fahrt mit der Achterbahn den Abgang von Nierensteinen beschleunigen und ebenso von Asthmasymptomen ablenken kann, die dann allerdings unmittelbar vor und unmittelbar nach der Berg- und Talfahrt umso heftiger auftreten? Oder dass das regelmäßige Blasen in ein Didgeridoo gegen Schnarchen und chronischer Schlafapnoe hilft? Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, welchen Einfluss starker Harndrang auf Ihre Entscheidungskompetenz haben könnte?
Sollten Sie aber, könnte in gewissen Situationen durchaus von Nutzen sein. Wie auch das Wissen darum, wie man bei einem im Reißverschluss eingeklemmten Penis klugerweise vorgeht, um nicht alles noch schlimmer zu machen. Derart gewinnbringende Kenntnisse könnten Sie sich aneignen, wenn Sie ab und an eine jener Studien läsen, für die ihre Verfasser in jährlichem Turnus einen der wenig begehrten Ig-Nobelpreise erhalten.
Dieser Preis würdigt seit 1991 wissenschaftliche Leistungen, die „Menschen zuerst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringen“. „Ignobel“ bedeutet zwar „unwürdig, schändlich, beschämend“, doch im Grunde ist die so bezeichnete Auszeichnung für alle Beteiligten ein großer Spaß.
Preis für mehrere Disziplinen
Der von der Zeitschrift „Annals of Improbable Research“ Jahr für Jahr im Sanders-Theater der Harvard-Universität in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts) verliehene Preis wird in mehreren Disziplinen vergeben. Der Jury gehören neben (Ig-)Nobelpreisträgern weitere Wissenschaftler, zudem Amtsträger, Sportler und weniger bekannte Persönlichkeiten an.
Als Besenmeister fungiert der Harvard-Physiker Professor Roy Jay Glauber, Nobelpreisträger von 2005, der während der Zeremonie die Papierflieger von der Bühne kehrt, mit denen das Publikum die Preisträger bewirft.
Tatsächlich verwandeln sich die im Sanders-Theater versammelten Wissenschaftler binnen weniger Minuten in Kinder, und da Kinder am liebsten über Pullermann- sowie Kacka-Pippi-Pups-Witze lachen, verwundert es wenig, dass ein bedeutender Teil der im Herbst jeden Jahres gewürdigten Forschungsarbeiten spezifische Fragen rund um Penis, Hoden und Vagina, Anus und Rektum, Urin, Stuhlgang und Flatulenz in den Mittelpunkt stellen.
Haben Sie sich schon entschieden, weiterzulesen? Und zuvor Ihren Harndrang gestillt? Sollten Sie dabei in eine missliche Lage geraten sein, so sei Ihnen eine Kneifzange empfohlen: Hierzu jedenfalls rät Ihnen und allen Leidensgenossen der US-Urologe James F. Nolan vom Marinehospital in San Diego, Kalifornien, der in seiner erhellenden Studie „Acute mangement of the zipper-entrapped penis“, erschienen 1990 im „Journal of Emergency Medicine“, echte Grundlagenforschung betrieben hat.
Als er für seine Pionierarbeit 1993 den Ig-Nobelpreis für Medizin in Empfang nahm, standen ihm Tränen in den Augen. „Ich wünschte, meine Mutter wäre hier, um zu sehen, wie ich diesen Preis entgegennehme“, beteuerte er vor 1200 Zuschauern im voll besetzten Sanders-Theater, die ihn mit einer modifizierten Version des Michael-Jackson-Klassikers „We Are the World“ hochleben ließen.
Böse Schwiegermutter inspirierte
Die primären Fortpflanzungsorgane, so scheint es, erregen seit jeher die männerdominierte Forschergemeinde, was sich auch in den Annalen des Ig-Nobelpreises spiegelt. 1992 etwa erhielt ein Doktorand der Columbia University die Auszeichnung in der Kategorie Kunst für sein Poster „Penises of the Animal Kingdom“.
Darauf zu sehen waren ein Dutzend handgezeichneter Pimmel, maßstabsgetreu nach Größe sortiert, vom längsten (Pottwal) bis zum kleinsten (Mensch), ein, pardon, Schwanzlängenvergleich der besonderen Art, bei dem das vermeintlich starke Geschlecht des Homo sapiens nicht allzu gut weg kam.
Und von wegen „Wie die Nase des Mannes …“ oder vergleichbare Sprüche: Wie der Urologe Jerald Bain vom Sinai Hospital in Toronto gemeinsam mit seinem US-Kollegen Kerry Siminoski in ihrer wegweisenden Studie „Das Verhältnis zwischen Körpergröße, Penislänge und Schuhgröße“ nachweisen konnte, gibt es keinerlei signifikante Korrelationen, die ein Maßband ersetzen könnten.
Bain, Schuhgröße 38, hatte eine böse Bemerkung seiner Schwiegermutter zu der Studie animiert, bekundete er bei der Ig-Nobelpreisverleihung 1998. In Würdigung seines Werks erhielt er eine Quietsche-Ente, ein Exemplar der „Annals of Improbable Research“, eine Plastikmundharmonika sowie eine Rolle Klebeband.
Für ein von ihnen entwickeltes, gleichsam postmodernes Screeningverfahren zur Detektion erektiler Dysfunktionen wurden die Urologen John M. Barry, Bruce Blank und Michael Boileau von der University of Oregon in Portland, USA, in diesem Jahr (2018) geehrt. Ihren Probanden pappten sie vor dem Einschlafen eine Briefmarke auf den Penis, wodurch es ihnen gelang, 22 potente Männer von elf impotenten zweifelsfrei zu unterscheiden.
Schade eigentlich, dass die Preisträger 38 Jahre auf die Anerkennung ihrer potenten Arbeit warten mussten, ist ihre Studie „Nocturnal penile tumescence monitoring with stamps“ doch bereits 1980 im Fachblatt „Urology“ erschienen, und wer schreibt heute noch Briefe?
888 Kinder von einem Mann?
Apropos Potenz: Kann es sein, dass ein einzelner Mann 888 Kinder zeugt? Diese Frage erregte 2014 das Erkenntnisinteresse der Wiener Anthropologen Elisabeth Oberzaucher und Karl Grammer. Subjekt ihrer Forschung war niemand Geringeres als die marokkanische Legende Kaiser Moulay Ismael (1672-1727), genannt der Blutrünstige. Oberzaucher und Grammer entwickelten eine Computersimulation, die anhand verschiedener Vorgaben errechnete, wie viele Kopulationen pro Tag notwendig sind, um das berichtete reproduktive Ergebnis zu erzielen.
Ihr Algorithmus berücksichtigte soziale wie biologische Determinanten und setzte im ersten Durchgang einen zufälligen Pool mit uneingeschränktem Zugang zu paarungs(un)willigen Weibchen und in einer zweiten Berechnung ein Harem voraus. In beiden Fällen hätte der Blutrünstige durchaus den Reproduktionserfolg erzielen können, wobei sein Harem sogar weitaus kleiner hätte sein dürfen als gemeinhin berichtet. Für ihren eleganten Ansatz erhielten die Wiener Forscher 2015 den Ig-Nobelpreis für Mathematik.
Hätte Kaiser Moulay Ismael womöglich sogar die 1000-er Marke knacken können, wenn er Zugriff auf das US-Patent Nr. #3.216.423 gehabt hätte? Wer weiß. Der von Charlotte E. und George G. Blonsky aus New York City entwickelte „Apparatus for facilitating the birth of a child by centrifugal force“ trug dem Erfinderpaar 1999 den Ig-Nobelpreis ein.
Diese „Vorrichtung zur Erleichterung der Geburt eines Kindes durch Zentrifugalkraft“ hat es leider nie in den Kreißsaal geschafft, dabei hätte man den rotierenden Tisch samt darauf festgeschnallter Schwangeren gern einmal in Aktion gesehen, zumal er mit einem Netz verknüpft war, welches das Neugeborene im Fall des Falles hätte auffangen können.
Um die Überwindung träger Massen geht es auch in einer Studie, die 1994 mit dem Ig-Nobelpreis für Biologie gewürdigt wurde. Über die Auszeichnung durften sich der Kolorektalchirurg Dr. W. Brian Sweeney von der University of Massachusetts Medical School und seine Kollegen Brian Krafte-Jacobs, Jeffrey W. Britton und Wayne Hansen freuen, deren eigenwillige Studie „The constipated serviceman“ („Der verstopfte Soldat“) bis in unsere Tage nachwirkt.
Darin untersuchten die Forscher die Prävalenz obstipatischer Beschwerden von 500 Marinesoldaten und Seeleuten, die im Zuge der Operation Desert Shield (Zweiter Golfkrieg) 1991 an Bord der USS Iwo Jima im Einsatz waren. Sweeney et al. fanden mittels Befragung heraus, dass 3,9 Prozent der Soldaten in ihrer häuslichen Umgebung unter Verstopfungen litten, verglichen mit 6 Prozent an Bord und 30,2 Prozent im Feld, vorausgesetzt man definiert Obstipation als dreitägiges Ausbleiben von Stuhlgang – setzt man Verstopfung dagegen mit anorektalen Beschwerden wie hartem oder blutigem Stuhl sowie schmerzhaftem Stuhlgang gleich, erhöht sich die Inzidenz auf 7,2 Prozent im heimischen Milieu, 10,4 Prozent an Deck und 34,1 Prozent auf dem Schlachtfeld, woraus Sweeney und Kollegen schlossen, dass die Navy vor künftigen Kampfeinsätzen entsprechende Präventivmaßnahmen gegen „verstopfte Soldaten“ ergreifen sollte, welche, schreiben sie nicht.
Selbst eingeführte Fremdkörper
Auch David B. Busch und James R. Starling aus Madison, Wisconsin, erhielten den Ig-Nobelpreis für eine Studie, die buchstäblich für den A … war. Für ihre im Fachblatt „Surgery“ erschienene Forschungsarbeit werteten der Pathologe und der Chirurg weltweite Fallstudien aus, die sich mit selbst eingeführten Fremdkörpern im Rektum befassen, und listeten jene tabellarisch nach Art und Anzahl auf, wobei sie auch die Altersverteilung der Patienten, spezifische Hürden bei der Anamnese, die Differenzialdiagnose des Juckreizes, die Vielfalt der Operationstechniken, diverse Komplikationen sowie die sich daraus ergebenden Prognosen berücksichtigten.
In ihrer Studie Erwähnung finden sieben Glühbirnen, ein Schleifstein, zwei Blinklichter, eine Drahtfeder, eine Tabakdose, eine Ölkanne mit Kartoffelschäler, elf verschieden geformte Früchte, Gemüse und andere Nahrungsmittel, eine Juwelier-Säge, ein gefrorener Schweineschwanz, ein Zinnbecher, ein Bierglas und die bemerkenswerte Sammlung eines Patienten samt Brille, Schlüssel, Tabakbeutel und Zeitschrift.
Um Vorhaben wie dieses mag man keine Forscherseele beneiden, aber irgendwer muss es ja tun. Immerhin verdienen sich Autoren derart anrüchiger Studien weltweite Aufmerksamkeit, sodass man ihrer noch Jahrzehnte später gedenkt:
» 1992 wurden Fujihiro Kanda und Kollegen vom Shiseido Research Center in Yokohama, Japan, ausgezeichnet für ihre Studie „Erläuterungen von chemischen Verbindungen, die für Fußgeruch verantwortlich sind“; insbesondere lobten die Ig-Nobelpreis-Juroren die Quintessenz der japanischen Forscher, dass Menschen, die denken, dass sie Fußgeruch haben, tatsächlich an den Füßen stinken, und solche, die es nicht denken, nicht.
» 1998 gelangte Maria Sidoli von der Universität Washington mit ihrer im „Journal of Analytical Psychology“ erschienenen Studie „Farting as a defence against unspeakable dread“ zu Ig-Nobelpreis-Ehren, in der sie den Fall eines psychisch gestörten Jungen beschrieb, der „seine Fürze dazu benutzte, um sich aus Angst vor dem Zusammenbruch in eine schützende Wolke der Vertrautheit zu hüllen“.
» Im selben Jahr durften sich Dr. Caroline M. Mills vom Department of Dermatology des Royal Gwent Hospitals in Newport, Wales, und Kollegen über den Ig-Nobelpreis für Medizin freuen: Ihre Arbeit „Ein Mann, der sich in den Finger stach und fünf Jahre lang faulig stank“ war zuvor schon durch ihre Publikation im „Lancet“ geadelt worden.
» Aufmerksamkeit erregte auch eine 2004 vom Komitee für preiswürdig gefundene Arbeit kanadischer und skandinavischer Forscher um Ben Wilson von der University of British Columbia, die den Nachweis erbrachte, dass Heringe mittels Fürzen miteinander kommunizieren.
2006 wiederholte Bart Knols von der Universität Wageningen in den Niederlanden gemeinsam mit Kollegen aus Tansania, Österreich und Italien das Kunststück, mit einer im „Lancet“ veröffentlichten Untersuchung von den gestrengen Juroren des Ig-Nobel-Komitees wahrgenommen zu werden.
Ihre Studie „On Human Odour, Malaria Mosquitoes and Limburger Cheese“ erbrachten sie den Nachweis, dass die den Malaria-Erreger übertragende Mücke Anapheles gambiae vom Limburger Käse gleichermaßen angezogen wird wie vom Geruch menschlicher Füße.
» 2008 schließlich erhielten Geoffrey Miller, Joshua Tybur und Brent Jordan vom Department of Psychology der University of New Mexico in Albuquerque, USA, den Preis für eine Studie, in der sie der staunenden Öffentlichkeit unter die Nase rieben, dass die Höhe des Trinkgeldes, das erotische Tänzerinnen für ihre Darbietungen einheimsen, mit ihrem Sexualzyklus korreliert: In Phasen des Eisprungs verströmen sie offenbar einen Odem, der selbst die Geizigsten ihrer Bewunderer tief in die Tasche greifen lässt.
Fluchen lindert Schmerzen
Auch jenseits olfaktorischer Erkenntnisse ist der Ig-Nobelpreis eine wahre Fundgrube unverhoffter Grundlagenforschung. Dank quer denkender Forscher kennen wir nun die Beschaffenheit von Bauchnabelfussel und wissen überdies, dass eine Elektroschockbehandlung mittels einer Autobatterie leider gänzlich ungeeignet ist, um das Gift einer Klapperschlange zu neutralisieren.
Aufschlussreich erscheint uns zudem, dass Gummipuppen unter Umständen Gonorrhoe übertragen, Fahrstuhlmusik die Produktion von Immunglobulin A anregt, Fluchen tatsächlich schmerzlindernd wirkt (nun gut, das haben wir schon immer geahnt), teure Placebos besser wirken als billige, sich exzessives Fingerknacken keineswegs wie häufig kolportiert arthritisch rächt, vermeintlich unbehandelbarer Schluckauf durch rektale Fingermassage versiegt, Spechte keine Kopfschmerzen bekommen, die rotfüßige Schildkröte sich nicht vom Gähnen ihrer Artgenossen anstecken lässt, Viagra für Hamster ein probates Mittel zur Überwindung ihres Jetlags ist und Kühe mit Namen mehr Milch spenden als Kühe ohne Namen.
Verwundert nehmen wir zudem zur Kenntnis, dass es im Reich der Tiere sexuelle Präferenzen gibt, die wir den entsprechenden Arten nie zugetraut hätten. Oder was halten Sie davon, dass Fruchtfledermäuse zu Fellatio neigen, Stockenten zu Nekrophilie und Männchen der Käfergattung Julodimorpha bakewelli so lange mit braunen Bierflaschen kopulieren, bis sie tot umfallen? Sehen Sie!
Wie sophisticated die Entscheidungen des Ig-Nobelpreis-Komitee mitunter sind, illustriert kaum eine Arbeit besser als die Studie „From junior to senior Pinocchio“ der belgischen Psychologin Evelyne Debey und Kollegen, die die Ehrung nicht allein dafür erhielt, 1000 Lügner nach der Häufigkeit ihres Lügens befragt zu haben, sondern vor allem ihrer Bereitschaft wegen, „ihren Antworten zu glauben“.
Einige der in Cambridge gewürdigten Erkenntnisse sind mittlerweile im kollektiven Bewusstsein verankert. Hierzu zählen Erkenntnisse zu Murphys Gesetz (1996 und 2003), die Darlegung des Dunning-Kruger-Effekts, wonach die Schwierigkeit, die eigene Inkompetenz wahrzunehmen, zu übersteigerter Selbsteinschätzung führt (2000), und das damit wesensverwandte Phänomen, dass Menschen, die glauben, betrunken zu sein, auch glauben, dass sie besonders attraktiv sind (2013).
» 1991 fand die erste Preisverleihung statt. Die Abkürzung steht dabei für „Ignobel“. Das bedeutet zwar „unwürdig“, doch eigentlich ist die so bezeichnete Auszeichnung für alle Beteiligten ein großer Spaß.
» Bedingung für die Nominierung ist, dass die Entdeckung zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken führen soll.
» Vergeben wird der Preis von der in Cambridge (USA) erscheinenden Zeitschrift „Annals of Improbable Research“.