20 Jahre danach
Baumanns Zahnpasta-Affäre bleibt ein ungelöstes Rätsel
Der Fall Dieter Baumann spaltete vor 20 Jahren Sport-Deutschland. In der Zahnpasta des Lauf-Idols werden Spuren eines verbotenen Mittels gefunden. Gewieftes Doping oder heimtückischer Anschlag? Manche Beteiligte lässt die Frage bis heute nicht los.
Veröffentlicht:Tübingen. Die Corona-Krise ist für Dieter Baumann „wie die zehnte oder elfte Runde eines 5000-Meter-Laufs: Du weißt noch nicht, ob du ankommst“. Der Olympiasieger von 1992 arbeitet schon seit vielen Jahren als Kabarettist und hat derzeit wie viele Künstler keine Auftritte und kein Publikum.
Auf der Bühne, so erzählte der Langstreckenläufer einmal, habe er oft folgende Erfahrung gemacht: „Es ist verrückt: Ich muss nur ‚Zahnpasta‘ sagen, und alles lacht. Es ist ein Phänomen, dass ein einziges Wort so etwas auslösen kann. Toll!“
Es ist bis heute das wohl größte ungelöste Rätsel des deutschen Sports: Der Fall Dieter Baumann – die „Zahnpasta-Affäre“.
Am 23. Juni vor 20 Jahren hob der Rechtsausschuss des Deutschen Leichtathletik-Verbandes die Suspendierung des Lauf-Stars auf, nachdem der DLV ihn ein gutes halbes Jahr zuvor wegen zwei positiver Tests aus dem Verkehr gezogen hatte. Es war aber nur ein vorläufiger Erfolg auf Baumanns atemlosem Weg durch die Instanzen.
Täter oder Opfer?
Ob der Schwabe gedopt hat oder Opfer eines Anschlags gewesen ist, der inzwischen 55-jährige Tübinger weiß die Antwort natürlich. Und wenn es einen Täter gab, dann weiß auch dieser, wie es wirklich war.
Der Weltverband IAAF kassierte später den Freispruch durch das DLV-Gremium ein, sperrte Baumann und lehnte einen Gnadengesuch ab. Vergebens kämpfte der Ausdauerathlet unmittelbar vor den Sommerspielen 2000 in Sydney beim Internationalen Sportgerichtshof (Cas) um sein Startrecht – und reiste geschlagen ab. Nach Ablauf der später verkürzten Sperre holte er 2002 noch EM-Silber, 2003 beendete er seine Karriere.
„Ein spannender Fall. Juristisch aufgearbeitet, aber im Kern ungelöst. Die letzte Gewissheit gibt es nicht: Man glaubt ihm – oder nicht. An dieser Bewertung hat sich bis heute nichts geändert“, sagt Clemens Prokop.
Der Jurist und damalige DLV-Vize, später lange an der Spitze des Verbandes, war einst der Widersacher Baumanns vor dem Rechtsausschuss. Der frühere Vorsitzende des Ausschusses, Wolfgang Schoeppe, hat die Causa „komplett abgeschlossen“ und will sich nicht mehr äußern.
Bei zwei Trainingskontrollen am 19. Oktober und 12. November 1999 war im Urin des Athleten das anabole Steroid Nandrolon nachgewiesen worden. Baumann selbst rief am 19. November in der Zentrale der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg an und kündigte an, dass es in Kürze eine DLV-Mitteilung gebe, wonach er positiv getestet worden sei. Er beteuerte seine Unschuld, wie so oft in den folgenden Monaten.
Story schafft es ins Kino
Der deutsche Sport reagierte ungläubig auf die Nachricht: Baumann gedopt?! Ausgerechnet Baumann? Der so engagierte Anti-Doping-Kämpfer! Der Vorläufer! Der Leichtathletik-Held! Der weiße Kenianer, wie man ihn gerne nannte, weil er in Barcelona vor den übermächtigen afrikanischen Athleten Gold geholt hatte.
Der Fall geriet zum Krimi, der Polizei und Staatsanwaltschaft beschäftigte, durch viele Instanzen bis hin zum Oberlandesgericht Frankfurt und dem Cas ausgetragen wurde. Die 2000-seitigen Akten der Kriminalpolizei wurden geschlossen – kein hinreichender Tatverdacht gegen Baumann. Aber auch kein konkreter Tatverdächtiger.
Man gehe davon aus, „dass Baumann Opfer eines außerordentlich raffinierten Anschlags ist“, sagte der zuständige Hauptkommissar nach Vernehmungen von Baumann und seiner Frau Isabelle, die auch seine Trainerin war. Der SWR verfilmte später die Story mit Hans-Werner Meyer und Sophie Rois in den Hauptrollen: „Ich will laufen! Der Fall Dieter Baumann.“.
Doping-Fahnder Wilhelm Schänzer vom Kölner Labor hatte Baumanns Haus durchforstet, weil der Läufer beteuerte, er könne sich nicht erklären, wie das Dopingmittel in seinen Körper kam. Schänzer fand Norandrostendion in einer Zahnpasta Baumanns.
Die verbotene Substanz war injiziert worden – von wem auch immer. Später tauchte eine zweite fachgerecht manipulierte Tube auf. Baumann sprach von einem „kriminellen Akt“.
Immer wieder neue Verdächtige
Immer wieder tauchten neue Verdächtige auf: Mal Kollegen aus einem gemeinsamen Trainingslager, mal Ost-Funktionäre, die Baumann nach der Wende in seinem Kampf für den sauberen Sport traktiert hatte. Der deutsche Rekordhalter setzte 100.000 Mark Belohnung für die Ergreifung des Täters aus. Der Läufer erklärt an Eides statt, „dass ich nie Dopingmittel genommen habe“. Er unterzog sich sogar einem Test mit einem Lügendetektor.
Baumann fand damals einige Verbündete: An seiner Seite kämpften sein Anwalt Michael Lehner, heute einer der profiliertesten Sportrechtsanwälte, der Molekularforscher und Doping-Jäger Werner Franke, Rechtsprofessor Dieter Rösner und nicht zuletzt – bis zu einem späteren Bruch – der damalige Verbandspräsident Helmut Digel. In den Medien entbrannte ein Glaubenskrieg.
Lehner empfindet auch 20 Jahre danach „eine emotionale Berührtheit“, wenn er auf den Fall angesprochen wird. „Ich höre noch seine Stimme damals bei seinem Anruf, als er sagte: Ich habe ein Problem, ich bin positiv“, erzählt der 64-Jährige aus Heidelberg.
Und: „Ich glaube dem Dieter. Ich kenne Fakten, die die Öffentlichkeit nicht kennt. Für mich ist es nach wie vor ein Anschlag, ich denke ein Nach-Stasi-Anschlag. Das glaube ich einfach. Aus dem Umfeld der westdeutschen Leichtathletik kann ich mir so etwas nicht vorstellen.“
Lehner beruft sich dabei auf verschiedene Gutachten von damals, ähnlich hatte sich damals Franke geäußert.
Heimat auf der Bühne gefunden
Nach Ansicht Prokops hat „das Lager von Dieter Baumann nicht nachweisen können, dass ein Attentat vorliegt“. In seinem Buch „Lebenslauf“ schildert Baumann eindrucksvoll aus seiner Sicht den Fall, der bis heute seine großartige Karriere überschattet.
Wer es denn nun gewesen sein soll? Darüber schweigt er seit vielen Jahren – auch jetzt. Nach außen hin hat Baumann die Tätersuche abgeschlossen, er ist das Thema leid. „Ich werde dazu nichts sagen. Kein Kommentar zu all dem.“
In einem „Stern“-Interview sprach Baumann 2018 von einer schwierigen Zeit, die Spuren hinterlassen habe. „Aber aus heutiger Sicht hat wohl alles so kommen müssen. Für mich war immer klar: Der Sport ist mein Beruf, irgendwann werde ich Trainer oder Funktionär. Das war dann nicht mehr möglich. Heute bin ich froh, dass es so ist. Ich habe meine Heimat nicht im Sport, sondern auf der Bühne gefunden.“
Ohne seine Leidenschaft geht’s bei ihm auch dabei nicht: Bei seinen Sketchen steht er immer auf einem Laufband. (dpa)