Gastbeitrag
Der Atomausstieg ist geschafft – das Thema Atom bleibt aber
Zwar sind in Deutschland die letzten Meiler vom Netz. Bei atomkritischen Ärzten herrscht aber eher Katerstimmung denn Feierlaune.
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Ein Banner mit der Aufschrift „Gemeinsam Gewonnen“ hängt vorm AKW-Emsland in Niedersachsen. Mit der offiziellen Trennung der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim und Emsland vom Stromnetz geht die Ära der kommerziellen Stromerzeugung mit Atomkraftwerken in Deutschland nun zu Ende.
© Lars Klemmer / dpa / picture alliance
Endlich sind alle AKW in Deutschland vom Netz – die Hartnäckigkeit der Anti-AKW-Bewegung hat sich gelohnt. Die IPPNW hat mit ihrem ärztlichen Sachverstand um die gesundheitlichen Auswirkungen radioaktiver Strahlung dazu beigetragen. Als Friedensorganisation haben wir zudem den fundamentalen Zusammenhang zwischen ziviler und militärischer Atomtechnologie eingebracht. Unsere Freude über diesen wichtigen Abschaltschritt ist also groß – aber das Thema Atom ist noch längst nicht vorbei, der jetzt vollzogene Ausstieg ist noch nicht unumkehrbar. Und er ist noch unvollständig, da die Atomanlagen in Lingen (Brennelementefabrik) und Gronau (Urananreicherung) weiterbetrieben werden dürfen.

Dr. Jörg Schmid, in Stuttgart niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Mitglied im Arbeitskreis Atomenergie der Vereinigung Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW).
© IPPNW
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wird den Rückbau von Isar 2 mit allen rechtlichen Mitteln zu verzögern versuchen, um eine Art Offenhaltungsbetrieb dieses Meilers bis zur nächsten Bundestagswahl durchzusetzen. Dabei hat er den Ausstiegsbeschluss noch in der Merkel-Regierung selber mitgetragen, stellt aber jetzt fest, dass Bayern in der Umstellung auf eine erneuerbare Energieversorgung um Jahre hinter den anderen Bundesländern liegt. Sowohl den Ausbau der Netze als auch den der Windkraft hat er sträflich vernachlässigt.
Schon im Normalbetrieb gesundheitsgefährdend
Der Ausstieg aus der Atomenergie war längst überfällig: Durch die Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima wurde uns allen klar, welche Art von Risikotechnologie wir vor uns haben. Aber schon im Normalbetrieb ist ein AKW potenziell gesundheitsgefährdend. Radioaktive Strahlung im Niedrigdosisbereich verursacht stochastische Zellschäden. Das heißt, dass es bei einzelnen Zellen aufgrund der Strahlung zu einer Mutation kommt, die sich dann erst nach Jahrzehnten zu einer Vielzahl von Krebs- oder Tumorerkrankungen, aber auch zu einer Herz- und Kreislauferkrankung ausprägen kann. Es gibt Reparaturmechanismen in uns Menschen, deshalb führt nicht jede Zellmutation automatisch zu einer Erkrankung.
Der grundlegende Schädigungsmechanismus ist wissenschaftlich schon über ein Jahrhundert bekannt. Dabei trifft das Risiko der Umgebungskontamination die gesamte Bevölkerung, die im Umkreis einer Atomanlage lebt. Am sichtbarsten sind die gesundheitlichen Auswirkungen bei den vulnerablen Gruppen (Schwangere und Kleinkindern), die im Nahbereich (<5 km) eines Meilers wohnen (u.a. KIK-Studie aus 2007). Aber auch die Gefährdung der Atomarbeiter bildet sich in der Studienlage eindeutig ab (u.a. Inworks-Studie aus 2015). Das Ergebnis der gesundheitlichen Untersuchungen von über 300.000 Beschäftigten in der Atomindustrie zeigt auch hier erhöhte Leukämieraten.
Völlig ausgeblendet: die Urangewinnung
Die jetzt aktuell geführten Debatten zum „Wiederanfahren“ der drei Atomkraftwerke verleugnen die Hochrisikotechnologie „Atomkraft“. Gerade der Krieg in der Ukraine macht uns die dramatische Vulnerabilität einer atomaren Infrastruktur deutlich.
Die Atom-Befürworter blenden die Urangewinnung am Anfang der nuklearen Kette (z.B. in Afrika) mit ihren die Gesundheit gefährdenden Folgen aus. Auch das mit dem AKW-Rückbau verbundene Konzept des „Freimessens“ von gering radioaktivem Müll, einschließlich dessen Wiederverwertung, stellt eine mögliche Gefährdung für Mensch und Umwelt dar. Als IPPNW haben wir hierzu mit Experten mehrere Alternativen benannt.
Die Gesellschaft hat mit der Nukleartechnik den Tabubruch begangen, unseren Nachfahren eine schwere atomare Erblast zu hinterlassen. Wir stehen vor dem ungelösten Problem mit dem hochradioaktiven Atommüll – nicht nur in der Endlagerfrage, sondern auch bezüglich der Probleme an den Castor-Zwischenlagern, die nun zu Langfristlagern werden. Das Thema „Atommüll“ ist für unsere Gesellschaft noch lange nicht vorbei.