Hausarzt auf Hallig Hooge

Der Doc kommt mit der Fähre

Bei einer Sturmflut wurde er auf einem Schiff nahe der Hallig Hooge geboren - jetzt ist Dr. Gerhard Steinort an einen der wohl ungewöhnlichsten Hausarzt-Orte der Republik zurückgekehrt: als Hausarzt auf der Hallig.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Ankunft von Dr. Gerhard Steinort auf der Hallig. Alle 14 Tage kümmert er sich gemeinsam mit einem weiteren schon pensionierten Kollegen um die medizinische Versorgung der rund 100 Halligbewohner.

Ankunft von Dr. Gerhard Steinort auf der Hallig. Alle 14 Tage kümmert er sich gemeinsam mit einem weiteren schon pensionierten Kollegen um die medizinische Versorgung der rund 100 Halligbewohner.

© Dirk Schnack

SCHLÜTTSIEL. Wer Hallig Hooge erreichen will, muss pünktlich sein. Morgens um zehn Uhr legt die Fähre in Schlüttsiel, einem kleinem Fährhafen an der Nordseeküste, ab. Wer sie verpasst, muss lange warten. Erst am späten Nachmittag kann man übersetzen, um auf die Hallig im nordfriesischen Wattenmeer zu gelangen.

9.50 Uhr: Rund 50 Gäste, die meisten in windfesten Qutdoorjacken gekleidet und mit matschresistenten Wanderstiefeln an den Füßen, haben sich am Anleger eingefunden. Dr. Gerhard Steinort dagegen könnte auch zu einem Städtebummel aufbrechen. Helle Leinenhose, Freizeitjacke, eine kleine Tasche um die Schulter, trifft der Allgemeinmediziner als einer der letzten am Hafen ein.

Für ihn ist die Fährfahrt auf der Hilligenlei der Beginn seines Arbeitstages. Steinort fährt zur Sprechstunde zu den Halligbewohnern. Gemeinsam mit einem ebenfalls schon pensionierten Kollegen wechselt er sich ab: Alle 14 Tage setzt einer der beiden Ärzte nach Hooge über, um die rund 100 Bewohner und bei Bedarf auch Urlauber medizinisch zu betreuen.

Miserable Sprechstundenzeiten

Versorgung im Wattenmeer

Hooge ist mit rund 5,7 Quadratkilometern die zweitgrößte der insgesamt zehn Halligen im Wattenmeer.

Risiko: Auf ihr leben rund 100 Menschen auf zehn Warften – künstlich aufgeworfene Erdhügel, auf denen die Halligbewohner ihre Häuser bauen, um sie vor Überflutung zu schützen. Außerdem gibt es noch einen rund elf Kilometer langen Sommerdeich um die Hallig, der vor moderatem Hochwasser schützen soll. Dennoch wird Hooge mehrmals im Jahr – vorwiegend im Winter – von der Nordsee überflutet. Oft ragen dann nur noch die Warften aus dem Wasser, auf denen insgesamt auch rund 500 Gästebetten stehen.

Tourismus: An Spitzentagen sind im Sommer bis zu 1500 Urlauber auf der Hallig, um das Klima und die besondere Aussicht und Landschaft zu genießen. Über das Gesamtjahr kommen rund 90.000 Besucher.

Infrastruktur: Es gibt auf Hooge keinen festen Hausarzt, aber Krankenpfleger, einen Lehrer (für Grund- und Hauptschule) und einen Pastor. Tägliche Fährverbindungen gibt es zum Festland, aber auch zu den nordfriesischen Inseln. Fährhafen vom Festland aus ist Schlüttsiel in Nordfriesland.

10.00 Uhr: Während sich die Outdoorjacken noch im Hafen an der Reling drängeln, die Nordseeluft genießen und den weiten Horizont bewundern, geht Steinort gezielt auf eine Tür mit der Aufschrift "Salon" zu. "Unten ist es wärmer, und man hat seine Ruhe", sagt der Allgemeinmediziner.

Ohne Begleitung würde er jetzt lesen und die rund 75-minütige Fährfahrt entspannen. Heute erzählt er von einem der ungewöhnlichsten Hausarzt-Standorte, die die Republik zu bieten hat: schwer zu erreichen, mit karger Ausstattung und miserablen Sprechstundenzeiten - und doch sind alle Beteiligten mit der gefundenen Lösung hochzufrieden.

Denn an einen ständig präsenten Hausarzt auf Hooge ist trotz der Touristen bei nur 100 Bewohnern nicht zu denken. "Es gibt aber eine medizinische Anlaufstelle mit hervorragend ausgebildeten Krankenpflegern, die die Regelbetreuung übernehmen und unsere Arztbesuche sorgfältig vorbereiten", erzählt Steinort.

Die KV Schleswig-Holstein hatte Kollegen in Nordfriesland gezielt für diesen Dienst angesprochen. Die verwiesen auf Steinort und seinen Kollegen Dr. Heinz-Dieter Götzel.

Die beiden praktizierten zwei Jahrzehnte lang jeder in seiner Einzelpraxis im nordfriesischen Ort Langenhorn, rund 15 Autominuten von Schlüttsiel entfernt. Aus ihren früheren Einzelpraxen haben Nachfolger längst eine Gemeinschaftspraxis gebildet, nun sind auch Steinort und Götzel ein Team, das einen gemeinsamen Patientenstamm hat.

11.00 Uhr: Während Steinort berichtet, füllt sich der Salon langsam. Der Nordseewind wird jetzt rauer und die Urlauber müssen sich aufwärmen. Hier drinnen erhalten sie über Lautsprecher und Aushänge Informationen über eine Hallig, die Steinort aus Erzählungen seiner Familie bestens kennt - denn seine Mutter lebte früher auf Hooge, sein Großvater war Pastor auf der Hallig.

Eine Tandemlösung

Steinort selbst ist während einer Sturmflut auf der Überfahrt zwischen Hooge und der Insel Föhr geboren. Als Steinort zwei Jahre alt war, zog seine Mutter mit ihm aufs Festland nach Schleswig, später nach Süddeutschland. Steinort kam nach Schleswig-Holstein zurück, um sich in eigener Praxis niederzulassen.

Dass er aber einmal auf der Hallig seiner Vorfahren Patienten behandeln würde, war für ihn nie absehbar. "Mit der KV-Anfrage schließt sich für mich am Ende des Berufslebens ein Kreis. Da konnte ich nicht nein sagen", sagt Steinort. Ein wenig Bedenkzeit aber hatte er sich erbeten, als die KV-Anfrage kam.

"Ich bin ja schon eine Weile raus und will mir die Freiheit erhalten, längere Reisen zu unternehmen", erzählt der 70-Jährige. Deshalb kam für ihn nur eine Tandemlösung in Frage, damit sich die Ärzte auch gegenseitig vertreten können.

11.15 Uhr: Der ruhige Beginn seines Arbeitstages neigt sich langsam dem Ende zu. Die Hilligenlei nähert sich der Hallig. Steinort geht an Deck und zeigt auf die schon gut erkennbaren Warften. Er kennt jede einzelne von ihnen. Von einigen weiß er bereits, dass er dort heute Hausbesuch machen wird.

Das Pflegeteam auf der Hallig hat seit dem letzten Arztbesuch die Patienten aufgenommen und sortiert: Wer benötigt einen Hausbesuch, wer kann in das Sprechzimmer kommen? Weil es kein Wartezimmer gibt, werden die Sprechzeiten genau getaktet und jeder erhält eine persönliche Zeit, zu der man erscheinen soll.

Steinort hat vorher mit Krankenpfleger Thomas Frank telefoniert und weiß von elf Patienten, die er heute behandeln wird. Das klingt nach einem entspannten Arbeitstag. Aber die Zeit sitzt ihm dennoch im Nacken. Denn die Hilligenlei kommt nur noch einmal an diesem Tag zurück und legt Punkt 15.45 Uhr wieder ab Richtung Festland. Versäumt er diese Zeit, muss er auf der Hallig übernachten.

11.30 Uhr: Die Fähre legt mit einer Viertelstunde Verspätung an. Steinort ist einer der ersten, die die Hilligenlei verlassen. Zügig geht er in Richtung Parkplatz auf einen grauen Lieferwagen zu, der mit Rot-Kreuz-Emblemen versehen ist. Mit diesem Auto holt ihn Krankenpfleger Thomas Frank ab.

Der begrüßt ihn freundschaftlich und sagt dann ernst: 16. Die Zahl der Patienten, die heute einen Arzt sehen sollten, hat sich kurzfristig noch erhöht. Das ist eine Rekordmarke, die noch bei keinem Arztbesuch auf Hooge erreicht wurde - offensichtlich etabliert sich das neue Angebot.

Vier Stunden Zeit

Steinort bleiben jetzt vier Stunden. Weil er aber auch die gesamte Verwaltungsarbeit erledigen muss, geht es von der Fähre direkt zum ersten Hausbesuch. Frank steuert das Auto und reicht Steinort die erste Patientenakte. Der Arzt macht sich während der Fahrt mit den wichtigsten Details vertraut: Eine alte Halligbewohnerin, deren chronische Erkrankungen jetzt regelmäßige Arztbesuche erforderlich machen.

Ständige Reisen auf das Festland sind aber zu anstrengend. Steinort hält es bei ihr wie mit allen Patienten: Er versteht sich als Ergänzung zum Hausarzt auf dem Festland, spricht sich mit dem ab und liefert ihm alle Informationen über seine Behandlungen.

Bis zur Warft sind es nur wenige Autominuten. Schnell kommt das Auto auf den engen Wegen nicht voran - die Radfahrer brauchen lange, bis sie erkennen, dass in diesem Auto ein Arzt auf dem Weg zum Einsatz ist. Auf der Warft angekommen verschwinden Steinort und Frank zur Patientin ins Haus.

Draußen ist der Wind das auffälligste Geräusch. Die radelnden Urlauber sind zwar zu sehen, aber nicht zu hören. In der Ferne ist die Insel Amrum zu sehen.

11.55 Uhr: Arzt und Pfleger eilen zum Auto zurück. "Nichts ernstes", sagt Steinort, "aber wie das so ist: Wenn der Doktor schon mal da ist, will auch der Ehemann noch mal was abgeklärt haben." Er lässt sich die nächste Patientenakte geben, Frank drückt aufs Gaspedal. Noch dreieinhalb Stunden und 15 Patienten.

Frank bleibt dennoch gelassen. "Letzte Woche hättest Du hier sein sollen: Sieben Hubschraubereinsätze", erzählt er dem Arzt. Zufällig war eine Anästhesistin aus München unter den Urlaubern und konnte helfen. Bis der Helikopter eintraf, waren alle Patienten optimal versorgt. Der Ärztin hat die Herausforderung während des Urlaubs offenbar gefallen: "Die kommt nächstes Jahr wieder", sagt Frank.

12.00 Uhr: Der nächste Hausbesuch, wieder ein Chroniker. Die meisten Patienten, die an diesem Tag auf der Hallig aufgesucht werden müssen, sind alt und gebrechlich. Nur ein Kind mit Fieber ist dabei, die Familie macht Halligurlaub. Zwischen jeder Warft liegen nur ein paar Meter Luftlinie und Steinort und Frank kommen jetzt gut voran.

12.40 Uhr: Ankunft auf der Hanswarft, wo auch das Gemeindezentrum "Uns Halligus" liegt. Hier gibt es einen kleinen Laden, ein wenig Gastronomie. Im Hauptgebäude befindet sich eine Informationsstelle für Urlauber, Tür an Tür mit dem Sprechzimmer, das sonst von Frank und seiner Kollegin, der Gemeindekrankenschwester Barbara Kirschbaum-Schwalm, genutzt wird.

Zeit für eine Kaffepause

Im Patientengespräch: Der Allgemeinarzt Steinort wird mit einem breiten Krankheitsspektrum konfrontiert.

Im Patientengespräch: Der Allgemeinarzt Steinort wird mit einem breiten Krankheitsspektrum konfrontiert.

© Dirk Schnack

Die erste Patientin ist schon da. Die Verkäuferin aus einem Souvenirladen hat es eilig, muss zurück zu ihren Kunden. Sie sitzt in der "Wartezone" - zwei Stühle auf dem Flur direkt neben der geöffneten Eingangstür des Gebäudes. Frank schließt auf und während Steinort sich in das Computerprogramm einloggt, stellt er der Patientin schon die ersten Fragen.

Zwischen 14 und 14.30 Uhr, so hofft er, wird ein wenig Zeit für eine Kaffeepause sein. Dann soll auch der Inhalt seiner Tasche, selbst gebackener Blechkuchen, verzehrt werden. Frank ist bei den Behandlungen dabei, steuert seine Kenntnisse über die Patienten bei und hilft mit seinem Hintergrundwissen.

Alle Patienten kommen pünktlich, keiner versäumt seinen Arzttermin. Jeder wartet auf dem Flur. Weil auch die öffentliche Toilette in diesem Gebäude unterge-

bracht ist, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Fast jeder bleibt direkt vor dem jeweils wartenden Patienten stehen, weil über den Stühlen Infomaterial über die Hallig angebracht ist. Die Patienten scheint es nicht zu stören.

"Wir sind froh, dass hier Sprechstunde ist", sagt einer. Damit bestätigt er Steinorts Wahrnehmung, der sich zusammen mit Götzel vor Beginn der Tätigkeit in einer Einwohnerversammlung den Halligbewohnern vorstellte und auf positive Resonanz stieß.

14.30 Uhr: Die Sprechstunde ist nicht beendet. Ein junger Mann wartet noch. Frank schaut aus dem Sprechzimmer: "Einer noch", signalisiert er. Er holt schon mal den Kaffee und bereitet alle Formulare vor.

14.45 Uhr: Ende der Sprechstunde. Steinort hat 16 Patienten behandelt, die Zeit drängt. Seinen eigenen Kuchen kann er heute nicht mehr essen. Weil hier ohne MFA-Unterstützung gearbeitet wird, müssen jetzt alle Daten eingegeben werden.

Das wird nicht sofort bei jedem Patientenkontakt erledigt, weil die Taktung sonst durcheinander gerät. Frank unterstützt den Arzt, aber dem bereitet das Programm Probleme. "Ich bin eben schon lange raus. Und hier ist nichts selbsterklärend", sagt Steinort.

Hobby-Ornithologe

Während er Patientendaten eingibt, erzählt Frank von seiner Motivation, seit Sommer 2015 auf Hooge zu arbeiten. Der Hobby-Ornithologe kann hier seiner Leidenschaft nachgehen.

Vorher war Frank Angestellter der KV Hessen, wo er in der Frankfurter Dispositionsstelle Anrufe entgegengenommen und die jeweiligen Maßnahmen für die Versorgung eingeleitet hat - eine wichtige, fordernde Tätigkeit im Schichtdienst. Auf Hooge hat er nur tagsüber Dienst.

Ob er die Großstadt vermisst? "Nein, überhaupt nicht." Und gefordert werden er und seine Kollegin hier ebenfalls.

Das Spektrum der Erkrankungen, die sie zu sehen bekommen, ist so breit wie in einer Hausarztpraxis. Und sie entscheiden, ob die eigene Behandlung ausreichend ist, ob ein Patient auf die Sprechstunde von Steinort warten kann, ob er besser auf das Festland fährt oder ob der Rettungshubschrauber angefordert wird. Täglich zehn bis zwölf Patienten, vom Wespenstich bis zum Unfall, bekommen sie zu sehen.

15.30 Uhr: Während Frank erzählt, schaut er mehrfach zur Uhr. Steinort kämpft mit dem Verwaltungsprogramm, hat auch schon die Hotline angerufen. Immer wieder Stolpersteine, die ihn wertvolle Zeit kosten.

Eine Blutprobe will er mitnehmden, um sie auf dem Festland über die Praxis eines Kollegen sofort ins Labor zu geben. Frank hilft beim Ausdrucken von Rezepten und sagt zwischendurch die noch verbleibenden Minuten an.

15.40 Uhr: "So, jetzt wird es wirklich Zeit", sagt Frank energisch. Er nimmt den Autoschlüssel, fährt den Wagen direkt vor die Tür. Steinort greift Jacke und Tasche und hastet hinaus. Die Hilligenlei ist schon im Hafen und von der Warft aus zu sehen.

15.42 Uhr: Ankunft im Hafen. Steinort lässt den nicht gegessenen Kuchen bei Frank, der ihn unter den Gemeindeangestellten verteilen will. Steinort verabschiedet sich und geht auf den Salon zu. Nach über vier Stunden ununterbrochener Arbeit kann jetzt die erste Pause kommen.

15.45 Uhr: Die Pause muss verschoben werden: Steinort leiht sich ein Mobiltelefon und geht wieder an Deck. Er hat die Blutprobe vergessen und ruft Frank an, der postwendend zurückkommt. Der Kapitän muss ohnehin noch zwei Minuten mit dem Ablegen warten.

15.50 Uhr: Die Hilligenlei legt ab. Steinort ist an Bord, mit Blutprobe. Er lässt sich auf die letzte Bank fallen und atmet erstmal durch. Die Anspannung während der Verwaltungsarbeit kann jetzt abfallen. Steinort erzählt von seinem erfüllten Berufsleben: Niederlassung Mitte der 70er Jahre, Verkauf 1996, um noch einmal etwas Neues zu machen. Rund zehn Jahre als MDK-Gutachter, im ärztlichen Bereitschaftsdienst, dann die Rente.

Ein Anruf von der KV

Viele Reisen, eigene Bücher darüber und schließlich der überraschende Anruf der KV. Man merkt ihm an, dass er seinen Entschluss, auf Hooge zu helfen, nicht bereut hat. Ob es aber eine Daueraufgabe wird, weiß er noch nicht.

"Man muss sehen, wie der Patientenandrang über einen längeren Zeitraum wird. Es macht keinen Sinn, dauerhaft für vier Patienten rüberzufahren", sagt Steinort. Die Ermächtigung, die die KV für Hooge ausgestellt hat, läuft noch bis 2017.

17.00 Uhr: Die Hilligenlei war schneller als bei der Hinfahrt und hat die Zeit wieder eingeholt. Zwei Tage später will er feiern, dann in den Süden verreisen. Sein Kollege wird ihn auf Hooge vertreten.

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