Psychotherapie bei Flüchtlingen
Erst integrieren, dann aufarbeiten
In der psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen ist ein Umdenken nötig, meinen Experten: Die klassische Traumatherapie stößt hier an ihre Grenzen.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. In der psychotherapeutischen Versorgung der Flüchtlinge ist die klassische Traumatherapie womöglich nicht das Mittel der ersten Wahl. Vielmehr sei ein Umdenken nötig, meint Professor Eva-Lotta Brakemeier. Sie plädiert für Stabilisierung anstelle von Konfrontation.
"Bei den Flüchtlingen, die unter psychischen Störungen leiden, ist es weniger sinnvoll, die schlimmen Erlebnisse direkt zu bearbeiten, wie es in klassischen Traumatherapieverfahren beispielsweise durch Traumakonfrontation gemacht wird", sagt die Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie im Schwerpunkt Verhaltenstherapie der Psychologischen Hochschule Berlin.
"Die Hauptziele sollten vielmehr in der Stabilisierung des Patienten, der Fokussierung auf interpersonelle Probleme wie Trauer, Isolation und Konflikte und seiner Integration in die neue Lebens- und Arbeitswelt liegen", so Brakemeier.
Multidisziplinärer Ansatz
Neben Psychotherapeuten sollten auch Sozialarbeiter und Ergotherapeuten in die Therapie einbezogen werden, um soziale und berufliche Teilhabe zu unterstützen. Erstrebenswert seien Stepped-care-Modelle, welche je nach Schwere der psychischen Störung in einer integrierten Versorgungslandschaft durch ein multidisziplinäres Team aus Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten und Dolmetschern adäquate Behandlungen zukommen lassen.
In einem Modellprojekt will Brakemeier den Ansatz sieben Monate lang mit 30 Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak testen; die Behandlungsdauer soll jeweils bei zwei Monaten liegen. Sie befinde sich aktuell in "sehr gutem Austausch" mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das das Modellprojekt unterstützen will.
Es könnte bereits zum 1. November in Kraft treten und soll bei Erfolg auch breiter implementiert werden.
Auch Bundesärztekammer und Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) haben jüngst ein Modellprojekt vorgelegt (wir berichteten). Der Kern ähnelt in Punkten dem Ansatz Brakemeiers; er basiert auf drei Modulen: dem Aufbau eines bundesweiten Dolmetscherpools, der Errichtung von Koordinierungsstellen für die psychotherapeutische Behandlung in jedem Bundesland sowie einem dritten Modul, das die Qualifizierung der Ärzte - etwa asylrechtliche Kenntnisse - sicherstellen soll.
"Der entsprechende Vorschlag liegt der Politik vor", erklärt Timo Harfst von der BPtK der "Ärzte Zeitung" auf Anfrage. "Er wurde unter anderem an das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesintegrationsministerium, die Gesundheitsministerkonferenz der Länder und an die gesundheitspolitischen Sprecher der Fraktionen im Bundestag versandt."
Nach den Signalen, die die BPtK bislang aus der Politik erhalten habe, sei man zuversichtlich, dass das vorgeschlagene Modell auf Zustimmung stößt und realisiert werden kann.
Bedeutung der Muttersprache
Der Ansatz deckt sich mit den Forderungen von Brakemeier, die ebenfalls die Bedeutung von interkultureller Kompetenz der Therapeuten sowie dem Abbau von Sprachbarrieren durch den Einsatz von professionellen Dolmetschern betont. "Flüchtlinge sollten sich in der Therapie unbedingt in ihrer Muttersprache ausdrücken können", so Brakemeier.
Studien sowie klinische Erfahrungen zeigen, dass eine Psychotherapie auch mit professionellen Dolmetschern gut durchführbar sei.
Laut jüngsten Schätzungen der BPtK, die ein Vertreter in einer Expertenrunde im Gesundheitsausschuss des Bundestages vorgetragen hatte, könnten aktuell rund 60.000 Flüchtlinge behandlungsbedürftig sein.
Das würde inklusive Dolmetschern zu Kosten von rund 250 Millionen Euro führen.Ein Vertreter des GKV-Spitzenverbandes sagte in der Runde: "Wir wissen nicht genau, mit welchem Umfang wir es zu tun haben". Der bisher geschätzte Anteil von 40 bis 50 Prozent Betroffenen sei womöglich zu hoch gegriffen.
Brakemeier gibt jedoch zu bedenken, dass nicht nur die Geschehnisse in der Heimat sowie die Flucht traumatisierend wirken können: "Nach ihrer Ankunft in Deutschland sind die Flüchtlinge mit den Asylverfahren konfrontiert, benötigen Hilfe und Geduld in Warteschlangen. Konflikte zwischen den Flüchtlingen können schnell ausbrechen; die Zukunftsperspektive bleibt zunächst unsicher."
Ein Ende des Traumas sei mit der Ankunft in Deutschland also keinesfalls gewiss, was eine adäquate Behandlung umso dringender mache.
Psychotherapie hat höchste Priorität
Die Bedeutung der adäquaten psychotherapeutischen Versorgung der Flüchtlinge stellen auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in den Fokus.
In einer Kurz-Stellungnahme identifizieren die Akademien diese neben der Versorgung in Erstaufnahmeeinrichtungen, der Deckung des Bedarfs an qualifiziertem Personal, der Einbeziehung sprachlicher und kultureller Aspekte sowie der Verbesserung der Daten- und Forschungslage als Handlungsfeld mit höchster Priorität.
Sie favorisieren dabei eine medizinische Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen durch spezialisierte Polikliniken. "Diese sollten gekennzeichnet sein durch: kultur- und religionssensitive medizinische Expertise, (Fach-) Dolmetscher, Einbindung in die Gestaltung und Organisation von Erstaufnahmeeinrichtungen sowie Vernetzung mit Krankenhäusern, der Ärzteschaft vor Ort und Sozialträgern", heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung.