Krieg in der Ukraine
„Ich muss da hin!“: Arzt aus Hannover im Einsatz an der ukrainischen Grenze
Dr. Wjahat Waraich war für eine Woche an der polnisch-ukrainischen Grenze, um Geflüchtete zu versorgen. Der Arzt berichtet von seinen Erfahrungen – und warum er nicht anders konnte, als dorthin zu fahren.
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Sieben Tage am Rand des Krieges: Gynäkologe Dr. Wjahat Waraich reiste von Hannover an die ukrainische Grenze, um Flüchtlingen zu helfen.
© Dr. Wjahat Waraich
Hannover. Angst, Verzweiflung, Erschöpfung – das las Dr. Wjahat Waraich aus den Gesichtern der Menschen, als er Anfang März, zwei Wochen nach Kriegsbeginn, in Medyka an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine stand.
Bei minus zehn Grad kamen sie an, mit Sturzverletzungen, infizierten Wunden und Atemwegserkrankungen. „In den ersten Wochen war es sehr schwierig gewesen, den Leuten zu helfen, weil viele Hilfsgüter und Strukturen nicht vorhanden waren“, erinnert sich der Gynäkologe und Impfarzt aus Hannover.
Im Laufe seiner Zeit vor Ort konnten sie eine medizinische Grundversorgung etablieren. Manchmal habe es ausgereicht, dass sich die Menschen in den Zelten aufwärmen konnten, etwas warmes zu Essen bekamen. Im schlimmsten Fall mussten sie jedoch in eine 30 Kilometer entfernte Klinik gebracht werden. Die Notfallversorgung stand an erster Stelle, komplexe psychische Traumata konnten nicht so behandelt werden, wie es vielleicht notwendig wäre, sagt Waraich.
Waraich war mit der Hilfsorganisation Humanity First für sieben Tage in Medyka gewesen. Drei Tage vor der geplanten Abreise hatte die Organisation ihn kontaktiert. Für ihn war sofort klar: „Ich muss da hin!“ Doch eine Vorstellung, was genau ihn vor Ort erwarten werde, hatte er nicht.

Dr. Wjahat Waraich arbeitet als Impfarzt in Hannover. Am 7. März reiste er in das polnische 2500-Einwohner-Dorf Medyka an der Grenze zur Ukraine.
© [M] WoGi / stock.adobe.com | Ärzte Zeitung
Der 34-Jährige kommt aus einem Brennpunktviertel Hannovers. Seine Eltern flohen in den 1980er Jahren aus Pakistan und bekamen in Deutschland Asyl. In seiner Heimat Hannover gründete er vergangenes Jahr ein Corona-Aufklärungszentrum.
Mit Humanity First arbeitet er bereits seit 13 Jahren zusammen. Das erste Mal ist er 2010 für die Organisation nach Bénin geflogen. Als Medizinstudent hatte er damals gerade seine Vorklinik abgeschlossen. Neugierde und der Wille, den Menschen zu helfen, trieben ihn nach Afrika.
Das erste Mal am Kriegsgebiet
Doch der Einsatz in Polen war anders, berichtet Waraich. Seine früheren Einsätze waren lange geplant worden. Sie hätten ihn zwar in entlegenste Winkel des Planeten gebracht, aber nie zuvor in ein Kriegsgebiet.
Da stand Waraich schließlich im März, mitten in Europa und doch ganz nah am Krieg – und das spürte er. Die Menschen kamen zu Fuß über die Grenze, viele standen unter Schock, sagt er. „Ich musste gezielt auf die Menschen zugehen, mich als Arzt vorstellen und fragen, ob alles in Ordnung ist.“ Erst danach hätten viele Ankommende die Situation realisiert und von ihren Verletzungen oder Krankheiten erzählt. „Die Menschen suchten nicht direkt die Erste-Hilfe-Zelte auf, weil sie ganz andere Probleme hatten“, sagt Waraich. Einige haben ihm erzählt, was ihnen auf ihrer Flucht passiert ist und wen sie im Krieg verloren haben. „Es lässt einen nicht kalt, auch wenn man als Arzt täglich mit Leid konfrontiert ist und das eigentlich gewohnt ist.“
Dossier
Krieg in der Ukraine
Trotzdem hatte Waraich bei den Einsätzen zuvor einiges gelernt, das er an der polnisch-ukrainischen Grenze einsetzen konnte. An erster Stelle stand das Improvisieren, mit dem, was man hat. Schließlich fehlten zu Anfang Geräte und Medizin. „Mittlerweile hat Humanity First ein Ultraschallgerät, ein EKG-Gerät und mehr Medikamente“, berichtet er.
Eindrücke aus Medyka
Dr. Wjahat Waraich war für eine Woche an der polnisch-ukrainischen Grenze, um Geflüchtete zu versorgen.
Warum nimmt Waraich an humanitären Einsätzen teil, in Benin, in Pakistan oder in Polen? Er sieht es als seine ärztliche Pflicht an, Menschen in ärmeren Ländern und in Not zu helfen. „Unser Wohlstand verpflichtet uns“, sagt Waraich, der sich neben seiner ärztlichen Tätigkeit auch als Bezirksbürgermeister bei der SPD engagiert.
Trotzdem kann er nachvollziehen, dass andere es ihm nicht gleichtun. Er nutzt seinen Jahresurlaub für die Einsätze. Dieser sollte eigentlich zur Erholung dienen, die Ärztinnen und Ärzte aufgrund der Arbeitssituation im Gesundheitswesen dringend bräuchten. Daher müsse die Regierung medizinisches Personal, das sich engagieren möchte, in humanitären Notlagen freistellen, fordert er. „Wir können uns nicht vor unserer Verantwortung wegducken. Deutschland hat die Kapazitäten, sich stärker einzusetzen, als wir es bisher tun“, ist seine Überzeugung.
Struktur der Hilfsorganisationen nutzen
All jenen, die ihre Urlaubstage dafür verwenden möchten, humanitäre Hilfe zu leisten rät Waraich, nicht privat auf eigene Faust loszugehen. Lieber sollte man sich einer etablierten Hilfsorganisation anschließen. Und: Ist es der erste Einsatz, sollte man dies transparent kommunizieren, dann werde man nicht alleine gelassen.
Waraich selbst wird in wenigen Tagen wieder gen Osten aufbrechen. Dieses Mal werde er auf der ukrainischen Seite der Grenze gebraucht. „Wir werden die Menschen erstversorgen, die es nicht schaffen, über die Grenze zu gehen.“