Betroffener berichtet

Kampf gegen Krebs und Bürokratie

Als Wolfgang Jorzik die Diagnose Krebs erhält, kommt zu der Angst vor der Krankheit schnell ein gewaltiger bürokratischer Aufwand. Seither kämpft der 52-Jährige für eine Entbürokratisierung, schnellere Hilfe für Betroffene - und mehr Menschlichkeit im Umgang mit Schwerstkranken.

Von Anja Krüger und Pascal Beucker Veröffentlicht:
Fordert mehr Hilfe für Schwerstkranke: der an Krebs erkrankte Journalist Wolfgang Jorzik.

Fordert mehr Hilfe für Schwerstkranke: der an Krebs erkrankte Journalist Wolfgang Jorzik.

© Pascal Beucker

Vielleicht ist es das letzte Fest, das sie zusammen feiern. An einem regnerischen Wintertag treffen sie sich alle noch einmal. Den ganzen Nachmittag kommen immer wieder neue Gäste, viele mit Kindern. Ein Gartenfest, bei Glühwein und Brezeln.

Schließlich habe es mit dem geplanten Sommerfest nicht geklappt, hat Wolfgang Jorzik in der Einladung geschrieben. Das soll nachgeholt werden, aber "nicht drinnen in der Comfort-Zone, sondern beinhart und stilecht im Gartenhaus und im Garten".

Herzlich fallen die Begrüßungen aus an diesem Tag, wärmer noch die Verabschiedungen.

Das Fest müsse schnell stattfinden, hatte seine Frau Louisa den Eingeladenen mitgeteilt. Sie beobachtet, dass ihr Mann sich verändert. Sie weiß nicht, ob das am Kortison oder den Tumoren in seinem Kopf liegt.

Sie will nicht, dass es zu spät sein könnte für ein großes Wiedersehen mit Bekannten, Freunden und Kollegen.

Wolfgang Jorzik kämpft gegen den Krebs - und gegen die Bürokratie. "Die Sanduhr läuft", sagt der 52-Jährige. "Und es ist unglaublich, wie viel Zeit man in Anträge und Formulare stecken muss."

Vor elf Monaten ist sein Leben und das seiner Familie aus den Fugen geraten, von einem Tag auf den anderen. Rückblickend weiß der Journalist die vorangegangenen Veränderungen als Symptome zu deuten.

Wortfindungs- und Gleichgewichtsstörungen, ein zwanghaftes Rückwärtslesen von Wörtern, ein merkwürdiges Verhältnis zu Zahlen.

So addierte er die Ziffern auf einer Flitzebogenscheibe immer und immer wieder, genau wissend, dass sie 920 ergaben. Plötzlich versetzte sein Fahrstil seine Frau und die Zwillinge des Paares in Angst und Schrecken.

Dabei war er doch stets ein äußerst zurückhaltender Autofahrer.

Niederschmetternde Diagnose

Am 17. Februar strandet er auf einem Parkplatz in Leverkusen. Er ruft seine Frau an, ist extrem verwirrt. Sie alarmiert die Polizei. Die Beamten bringen ihn sofort in die Klinik.

Zwei Stunden später, nach einem MRT des Kopfes und des Brustkorbs, eröffnet der Oberarzt dem Journalisten: Er hat eine sehr aggressive Form von Lungenkrebs.

Weitere Untersuchungen ergeben Metastasen in der Leber und drei Tumore im Kopf, einer mit einem Durchmesser von fast vier Zentimetern im Stammhirn. Die Diagnose ist niederschmetternd.

 Die Ärzte geben Wolfgang Jorzik ohne Behandlung drei Monate. Im Sommer sollen seine Zwillinge eingeschult werden.

Mit der Behandlung beginnt dann auch ein ständiger Kampf mit der Bürokratie. Die Krankenkasse verlangt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die fristgerecht beim Arzt am anderen Ende der Stadt abgeholt werden müssen.

Beim medizinischen Dienst der Krankenkassen muss eine Pflegestufe beantragt, die Begutachtung organisiert werden. Der Schwerbehindertenausweis muss beantragt werden, mit genau definiertem Passbild.

Der Antrag an die Krankenkasse für eine Haushaltshilfe zieht sich ewig hin, denn der freie Radiojournalist und seine Frau sind bei unterschiedlichen Kassen versichert.

"Erst nach diversen Anrufen war zu erfahren, dass weitere Unterlagen wie Arztbriefe fehlen", berichtet Jorzik. Doch das teilt die Kasse nicht mit, sie wartet einfach ab.

AAufseiten des Patienten dagegen muss alles so schnell wie möglich geschehen. Werden Unterlagen wie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht fristgemäß eingereicht, wird die Leistung gestrichen.

Dabei ist die Diagnose ein Schock, der erst einmal verarbeitet werden muss. Die Bürokratie hilft dabei nicht, im Gegenteil.

"Ausgerechnet dann, wenn man am wenigsten Kraft hat, muss man am meisten kämpfen", sagt Jorziks Frau Louisa Schaefer, die ebenfalls Journalistin ist. Von vielen Mitpatienten erfährt Jorzik, dass sie ähnliche Erfahrungen machen.

Der Kampf mit Formularen, Ämtern und Kassen ist für schwer Kranke und ihre Angehörigen eine enorme Belastung.

So manchen Patienten erwartet nach dem Klinikaufenthalt erst einmal ein Berg von Formularen, der mühsam abgearbeitet werden muss, weiß der Journalist.

Mehr Menschlichkeit gefordert

Er will eine gesellschaftliche Diskussion in Gang setzen. In einem Beitrag für die Tageszeitung "taz" fordert er im Mai mehr Menschlichkeit für Schwerstkranke. Der Titel des Artikels, "ICD-10-GM-2014 C34.9", ist sein Diagnoseschlüssel.

"Vieles spricht für eine neue Verwaltungsethik, für Menschlichkeit bei bürokratischen Vorgängen im Angesicht des Todes. Denn es sind Steuergelder und Krankenkassenbeiträge, die diese Verwaltungen finanzieren", schreibt er. Und bekommt viel Resonanz.

Der Text findet im Internet rasche Verbreitung, sein Blog "Cancer Corner" viele Leser. Jorzik schreibt regelmäßig über seine Erfahrungen.

"Trotz des Ernstes der Lage klingt für mich in Ihren Zeilen viel Mut und Ermutigung durch. Manchmal so viel, dass ich mich frage, wo Sie bloß mit Wut, Trauer und Verzweiflung bleiben. Ich hoffe, auch dafür gibt es Platz", schreibt ihm ein Arzt.

Wolfgang Jorzik ist sich sicher, dass sich für schwerstkranke Patienten und ihre Angehörigen vieles erleichtern ließe - wenn es den politischen Willen dafür gäbe.

"Die Nachricht, dass bei dem krankenversicherten Patienten C34.9 und C79.3 diagnostiziert sind, sollte den Verwaltungsapparat in Gang bringen, um dem Mitglied der Kasse sofort mögliche Hilfen vorzuschlagen, von der Übernahme der Fahrtkosten bei ambulanten Behandlungen wie der Strahlentherapie, einer Haushaltshilfe, einen Hinweis auf den Schwerbehindertenausweis und auf den psychosozialen Dienst des Jugendamtes der Kommune", fordert er.

Es gibt Hilfsangebote für Schwerstkranke und ihre Familien, wissen Wolfgang Jorzik und Louisa Schaefer aus eigener Erfahrung. Das Paar ist den Kindern gegenüber offen mit der Erkrankung umgegangen.

Leicht war das aber nicht. Die beiden haben sich professionelle Unterstützung geholt. Die Pädagogin, die den Kindern beistehen sollte, stellte ihre Arbeit rasch wieder ein. Ihnen gehe es gut, die Eltern würden genau richtig mit ihnen umgehen.

Aber von der Existenz solcher Angebote müssen Betroffene erst einmal erfahren, und sie müssen sie finden. Bewilligt sind sie damit auch noch nicht. Dafür müssen Dutzende von Kopien angefertigt, zigfache E-Mails geschrieben werden.

"Mir ist es schleierhaft, warum bürokratische Abläufe in schwierigen Lebenslagen nicht vereinfacht werden können", sagt Jorzik.

"Eine einfache Meldung der Diagnose und Hilfe, ohne seitenweise Formulare ausfüllen zu müssen - das allein würde Betroffene und ihre Familien ungemein entlasten und gäbe den Verwaltungen die Chance, Empathie und Kundenfreundlichkeit zu zeigen", sagt er.

Finanzielle Sorgen kommen hinzu

Doch die Realität sieht ganz anders aus: "Multiple-Choice-Fragebögen erwarten Kreuzchen an der richtigen Stelle, die ersichtlich machen sollen, wer was bei wem wann an finanzieller Unterstützung beantragt hat oder ob schon Geld geflossen ist", weiß Jorzik.

"Was würden sich die Verwaltungen der Krankenkassen, Kommunen und Rentenversicherungen vergeben, wenn sie ihre eigenen und gemeinsamen Hilfsangebote synchronisieren und im Krisenfall leicht abrufbar machen?" Technisch dürfte das im Internetzeitalter kein Problem sein.

Nicht nur der Krebs macht onkologischen Patienten Angst. Viele haben finanzielle Sorgen, auch Jorzik. Noch bekommt er Krankengeld, 1100 Euro im Monat. Wegen derselben Krankheit zahlt die Krankenkasse maximal 78 Wochen Krankengeld. So steht es im Sozialgesetzbuch.

Diagnose und Arbeitsunfähigkeit seit Februar 2014 bedeutet ein Mindestmaß an finanzieller Absicherung bis August 2015, glaubte er zunächst: "Vielleicht genügend Zeit, ohne allzu großen finanziellen Druck das eigene Leben und das der Familie in ruhigere Bahnen zu bringen - auch wenn die Krebsstatistik für mich nunmehr 52-Jährigen den August 2015 für kaum erreichbar hält", schrieb er in seinem Blog.

Wolfgang Jorzik ist arbeitsunfähig. So steht es im Entlassungsbericht der Reha-Klinik. Chemo- und Strahlentherapie haben ihre Folgen hinterlassen.

Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Schwäche sind Normalität geworden. Er kann schlecht hören. Nachdem die Reha zu Ende ist, ruft die zuständige Sachbearbeiterin der Krankenkasse regelmäßig an: Wann er wieder arbeiten könne?

Das kann er nicht sagen. Trotzdem ruft sie immer wieder an.

Dann schickt die Rentenversicherung ein Schreiben mit dem Vorschlag, dass er einen Antrag auf Rente stellt. Er würde viel weniger Geld bekommen, etwa 300 Euro im Monat. Wovon soll die Familie dann leben?

Ein Krankenhausaufenthalt überlagert diese Frage. Im Oktober beginnt die nächste Chemotherapie. Gerade aus dem Krankenhaus zurück, ruft die Sachbearbeiterin von der Krankenkasse wieder an.

"Ihre Rentenversicherung hat Ihnen geschrieben. Haben Sie sich schon entschieden?", will sie wissen. Das hat Jorzik, der zu diesem Zeitpunkt wegen einer halbseitigen Kehlkopflähmung nur noch flüstern kann, nicht.

"Sie sollten den Rentenantrag stellen", sagt die Sachbearbeiterin. "Das hat nur Vorteile für Sie."

Im Ermessen der Krankenkasse

Schließlich deutet die Rentenversicherung seinen Antrag auf Reha-Leistungen um in einen Antrag auf Verrentung. "An dieser Stelle ist die Krankenkasse vom Gesetzgeber gefordert, die entsprechenden Schritte einzuleiten", sagt Kerstin Danylak von der BKK mhplus.

Die Entscheidung treffe aber die Rentenversicherung. Krankenkassen haben einen Ermessensspielraum, das Krankengeld weiter zu zahlen. Der sei auf bestimmte Tatbestände eingegrenzt, sagt Danylak. "Entsprechende Fakten liegen uns im Falle von Herrn Jorzik nicht vor."

 Die mhplus habe sich im November telefonisch mit ihm in Verbindung gesetzt. "Krankheitsbedingt konnte dieses Angebot an Herrn Jorzik nicht umgesetzt werden, da dem Patienten das Sprechen sehr schwerfiel", sagt Danylak.

Die Kasse habe ihn schriftlich über die Notwendigkeit informiert, einen Rentenantrag zu stellen.

"An diesem Punkt wurde es jedoch versäumt, alle durch Herrn Jorzik angefragten Informationen zur Verfügung zu stellen. Dieses Versäumnis hat die mhplus eingeräumt und bedauert", räumt Danylak ein. Wolfgang Jorzik fühlt sich ausgetrickst.

Er lässt sich juristisch beraten. Nichts zu machen. Die Krankenkasse darf ihm drohen, die Zahlung des Krankengelds einzustellen, wenn er nicht wie gewünscht einen Antrag auf Rente stellt.

Stilvoll und moralisch sei das Verhalten allerdings nicht, konstatiert der Rechtsanwalt. "Sie sind eben nur ein Vorgang, der abgearbeitet wird", sagt der Jurist zu ihm. Freunde haben ein Spendenkonto für die Familie eingerichtet.

Neue Chemotherapie begonnen

Im Dezember stellen die Onkologen weitere Metastasen im Gehirn fest. Von weit her sind Freunde zum Gartenfest gekommen. Vor der Hütte spielt ein Freund Akkordeon, ein anderer Gitarre. Wolfgang Jorzik und Louisa Schaefer stehen unter dem kleinen Vordach.

Etwas entfernt brennt trotzig ein Feuer in einer Metallschale, Kinder spielen Fußball. Jorzik lächelt. Er hebt die Arme, um die vielen Umstehenden zum Singen zu ermuntern. Manche singen, manchen versagt die Stimme.

Wider Erwarten finden die Ärzte nach der Gartenparty doch noch eine weitere Therapieoption. Mit dem neuen Jahr hat Wolfgang Jorzik eine neue Chemotherapie begonnen. Die dritte.

Und er hat der Bürokratie einen kleinen Sieg abgerungen. Weil die BKK mhplus ihn nicht ausreichend informiert hat, erstattet sie seine Anwaltskosten, hat sie ihm gerade telefonisch mitgeteilt.

Jorzik freut sich. "Es lohnt sich, sich zu wehren."

Lesen Sie dazu auch: Krebs: Erste Hilfe nach der Diagnose

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