Spanien
Klamme Kassen, krankes System
Überlastetes Klinikpersonal, lange Wartezeiten, Facharztbehandlungen durch Hausärzte: Das ist in Spanien seit der Finanzkrise Realität geworden. Doch die Regierung spart weiter.
Veröffentlicht:Laura wirkt blass und abgespannt. Im Drei-Minuten-Takt ruft sie Patienten in ihr Sprechstundenzimmer. Der riesige Warteraum im Madrider Gesundheitszentrum Cea Bermúdez, in dem die 34-jährige Allgemeinmedizinerin seit knapp fünf Jahren arbeitet, ist vollkommen überfüllt.
Dennoch haben nur sechs Ärzte, knapp die Hälfte der Belegschaft, Schicht. "Das ist ein vollkommenes Chaos. Wir sind viel zu wenige Ärzte, um all diese Menschen angemessen behandeln zu können", meint die Medizinerin.
Die Madrider Regionalregierung hat aus Spargründen in den Sommerferien auf Urlaubsvertretungen verzichtet. Früher, vor der Wirtschaftskrise, die 2008 einsetzte, waren diese Maßnahmen noch plausibel, gibt Laura zu.
Vor allem im August verwandelte sich Madrid nahezu in eine "Geisterstadt". Die hohen Temperaturen von bis zu 40 Grad trieben die meisten Madrilenen an die spanische Küste oder in die Madrider Berge.
Doch die erst langsam zu Ende gehende Wirtschaftskrise und eine Arbeitslosigkeit, die immer noch bei knapp 25 Prozent liegt, zwingt immer mehr Spanier, auf ihren Urlaub zu verzichten oder ihn daheim zu verbringen.
Das bekommen vor allem die Gesundheitszentren der spanischen Hauptstadt, aber auch anderer Großstädte wie Barcelona, Valencia oder Zaragoza zu spüren, deren Personal in den vergangenen Jahren aus Spargründen ehedem schon drastisch reduziert wurde. "Dass man in einer solchen Situation jetzt auch noch Urlaubsvertretungen streicht, ist schon fast fahrlässig", ärgert sich die Allgemeinmedizinerin.
Ausgaben um zehn Prozent gekürzt
Die aktuelle Situation sei nicht mehr akzeptabel, sagt die Ärztin, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Im Kampf gegen die ausufernde Wirtschaftskrise kürzte die konservative Regierung von Mariano Rajoy in den vergangenen zwei Jahren die Ausgaben im Gesundheitsbereich um fast zehn Prozent.
In einigen Regionen wie in Katalonien oder dem Baskenland wurden fast 20 Prozent der Gesundheitszentren geschlossen. In vielen ländlichen Regionen wurden die Sprechstundenzeiten am Nachmittag gestrichen.
Auch viele operative Eingriffe sowie bis zu 425 Medikamente wurden aus dem öffentlichen Leistungskatalog herausgenommen, um Geld zu sparen. Der Rotstift von sieben Milliarden Euro wurde jedoch besonders stark beim Personal angesetzt.
In den vergangenen zwei Jahren wurden laut spanischem Gesundheitsministerium rund 28.500 Stellen im öffentlichen Gesundheitssystem abgebaut. Arbeiteten im Januar 2012 noch 505.185 Personen in staatlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren, waren es im vergangenen Januar nur noch 476.698, also 5,6 Prozent weniger.
"In Wirklichkeit sind es aber viel mehr. Die Regierung zählt nur Entlassungen. Mit denjenigen, deren Zeitverträge nicht verlängert wurden, und Angestellten aus privaten Einrichtungen, die im öffentlichen Gesundheitsbereich arbeiteten, schätzen wir die Zahl auf über 53.000", erklärt Marciano Sánchez-Bayle, Sprecher der spanischen Ärztevereinigung zum Schutz des Öffentlichen Gesundheitssystems (FADSP).
Sánchez-Bayle versichert, dass für zehn Ärzte, die in Rente gehen, sterben oder krank werden, nur ein neuer Arzt angestellt wird. Vor allem im Pflegepersonal sowie im Laborbereich wurde gekürzt.
Das hat aber auch drastische Auswirkungen auf die Arbeit der Ärzte, wie der 64-jährige Kinderarzt am Madrider Kinderhospital del Niño Jesús am eigenen Beispiel darstellt: "Oft sind mir die Hände gebunden, einen Patienten schnell und angemessen zu behandeln, da Labortests verspätet kommen oder Diagnosen fehlen, weil die CT- und Röntgenabteilung unterbesetzt ist".
Noch längere Wartezeiten auf Operationen
Von den Überstunden, die er leisten muss, da ausgeschiedene Kollegen nicht ersetzt wurden, möchte er erst gar nicht sprechen.
Er warnt: "Das schlägt sich früher oder später auf die Qualität des spanischen Gesundheitssystems nieder". Mit der Reduzierung von Sprechzeiten und Ärzten verlängern sich bereits Wartezeiten für Operationen und Facharztbehandlungen.
Die Wartezeiten für einen Facharztbesuch liegen bereits bei über 67 Tagen. 2010 waren es nur 53 Tage, gibt Sánchez-Bayle zu bedenken. Einige Autonomien (Bundesländer) fordern ihre Allgemeinärzte seit einiger Zeit sogar auf, Facharztbehandlungen zu übernehmen, um keine neuen Fachärzte anstellen zu müssen.
An seinem Kinderhospital wurden fast zwölf Prozent der 180 Betten reduziert, sagt FADSP-Sprecher Marciano Sánchez-Bayle.
Um das Jahresbudget von 70 Millionen (2009) auf derzeit 52 Millionen Euro herunterzufahren, wurden sogar die Nachmittagstermine für chirurgische Eingriffe gestrichen. So werden die Warteliste für Patienten in Spanien immer länger und die Terminkalender der Ärzte immer voller.
Auch Ärztin Laura schiebt erneut Überstunden, um die Schlange der ihr heute zugewiesenen Patienten abarbeiten zu können. Mehr Gehalt bekommt sie dafür aber nicht.
Im Gegenteil: Aufgrund der gearbeiteten Jahre und je nach Region gebe es zwar Unterschiede, "aber durchschnittlich sind die Ärztegehälter in Spanien seit Mai 2011 um fast 22 Prozent gesunken", versichert Pilar Navarro, Gesundheitsbeauftragte des spanischen Gewerkschaftsbundes UGT.
Perspektive: Arbeitslosigkeit
2012 fror die Regierung Weihnachts- und Urlaubsgeld ein. 2013 und 2014 wurden nicht nur die Extrazahlungen für Bereitschaftsdienste, Nachtschichten und Festtage deutlich reduziert, sondern auch die Möglichkeit, jene Extraschichten überhaupt zu absolvieren.
Ein harter Schlag: Immerhin machen die Sonderzahlungen einen Großteil des Gesamtgehalts aus, dessen Basissatz bei jungen Ärzten gerade einmal bei 2000 Euro im Monat liegt, verdeutlicht Pilar Navarro.
"Gleichzeitig hat die Regierung unsere Arbeitszeit per Dekret 2012 von 35 auf 37 Wochenstunden erhöht und unsere bisherigen sechs bis acht Freitage für persönliche Angelegenheiten auf drei reduziert", erklärt die Gewerkschafterin.
Beunruhigender als die empfindlichen Gehaltskürzungen bei erhöhten Arbeitsstunden sind für die Allgemeinmediziner aber die Zukunftsperspektiven. Seit Beginn der Wirtschaftskrise haben Spaniens Ärzte mit einem neuen Problem zu kämpfen: Arbeitslosigkeit.
Viele Regionen haben seit einem Jahr sogar einen generellen Einstellungsstopp für neue Ärzte verhängt, um Kosten zu drücken. Obwohl immer noch keine öffentlichen Zahlen vorliegen, schätzt die Vereinigung spanischer Allgemeinmediziner (Semfyc) die Zahl arbeitsloser Jungmediziner auf bis zu 15 Prozent.
Fern der Heimat auf Suche nach besseren Jobmöglichkeiten
Unter diesen Umständen zieht es viele spanische Ärzte und Krankenpfleger ins Ausland. Brauchte Spanien zu Zeiten des Wirtschaftsbooms bis 2007 noch dringend Ärzte aus anderen Ländern, da zudem viele Einwanderer aus Lateinamerika ins Land strömten, müssen heute immer mehr spanische Ärzte ihre Heimat auf der Suche nach besseren Gehältern und Jobmöglichkeiten verlassen, bestätigte jüngst auch Semfyc-Vorsitzender Josep Basora.
Laut dem UGT-Gewerkschaftsbund befinden sich derzeit 4500 spanische Ärzte und 6000 Krankenpfleger im Ausland. UGT-Sprecherin Pilar Navarro weist jedoch darauf hin, dass immer mehr von ihnen aufgrund der schlechten Arbeits- und Vertragsverhältnisse gerade in Deutschland und in England wieder zurückkehren.
Für die Rückkehrer gibt es zumindest einen neuen Hoffnungsschimmer. Der Oberste spanische Gerichtshof untersucht derzeit die Privatisierungs- und Sparmaßnahmen der Madrider Regionalverwaltung im öffentlichen Gesundheitsbereich. Sollten sie als verfassungswidrig eingestuft werden, könnten auch ähnliche Sparmaßnahmen in anderen Regionen für rechtswidrig erklärt werden, meint Pilar Navarro.
Der Gewerkschaftsbund will deshalb die im vergangenen Jahr fast monatlich ausgerufenen Protestmärsche im Gesundheitssektor zunächst aussetzen, bis das Gericht einen Beschluss gefasst hat.
"Vielleicht können wir dann Anfang 2015 mit der Regierung verhandeln, die alle Sparmaßnahmen und Kürzungen bisher per Dekret durchboxte, ohne sich jemals mit uns an einen Tisch gesetzt zu haben", hofft Pilar Navarro.
Lesen Sie dazu auch: Spanien: "Öffentliches Gesundheitswesen ist nicht zu verkaufen"