Anekdoten aus dem Klinikalltag
Wenn Ärzte zusammen Musik machen
Musik machen, um sich vom Klinikalltag zu lösen: Anästhesist Hans Voigtmann spielt gemeinsam mit Zahnärztin Sarah Becker in der Band "Tante Doktor" - und erzählt den Zuhörern, wie es ist, ein Arzt zu sein.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. "Medikamente sind bei uns im Kühlschrank, seit Jahren ist das schon so hier. Kalt spritzt es sich einfach besser, man trinkt ja auch kein warmes Bier. Und je zerbrechlicher das Fläschchen, desto teurer ist der Wein - je mehr hier irgendetwas kostet, umso besser muss es sein."
Trockener Humor, jazzige Klänge, ein ganz neuer Einblick in den Klinikalltag - und seine Abgründe. Das erwartet Zuhörer, wenn sie Sarah Becker und Hans Voigtmann lauschen.
Seit über vier Jahren bilden die Zahnärztin und der Anästhesist das Mediziner-Duett "Tante Doktor". Das Lied "Wenn das Blut im Kühlschrank tanzt" ist eines von acht Liedern des neuen Albums "Bipolar".
Grotesker Einblick in den Klinikalltag
Geschrieben hat den Blick in die Klinikkühlung der Anästhesist, Sänger und Songwriter Hans Voigtmann. In seinem Arbeitsalltag sieht der Assistenzarzt Freude, Hoffnung und Schmerz oft nah beieinander liegen. Auf der Bühne gibt er diesen ungewohnten, gefühlvollen, oft aber auch grotesken Einblick in den Klinikalltag an seine Zuhörer weiter.
Seine Texte drehen sich um das Arzt-Patienten-Verhältnis, den Alltag in der Klinik, aber auch Tabuthemen wie Leid und Sterben - das passt zum oft melancholischen Grundton des Duos.
Etwa im Lied "Der kleine Wolf". Ein kleiner Junge spricht hier über seine Angst vor der bevorstehenden Herz-Operation, und er kommt zu dem nüchternen Schluss: "So hab ich mir das nicht vorgestellt."
"Medical Songwriting" als Erlebnisverarbeitung
"Medical Songwriting", so nennen Voigtmann und Becker diesen Prozess des Nach-außen-Tragens der Grenzerfahrungen, die Mediziner oft machen. Wenn eben das Blut tanzt oder Lungen voll Wasser laufen, wie im Song "Death Tango" beschrieben.
"Natürlich ist es in gewisser Form eine Verarbeitung des täglich Erlebten und Gesehenen", erklärt Sängerin Sarah Becker. Die primäre Motivation sei jedoch nicht, den eigenen Seelenballast aus dem Alltag loszuwerden, sondern "ganz klar das gemeinsame Musik machen" und die Freude daran.
2012 wurde die Gießener Band von dem Anästhesisten Hans Voigtmann und einigen befreundeten Ärzten gegründet, damals als musikalische Begleitung des Medizinerkabaretts "Elephant Toilet". Heute sind Becker und Voigtmann selbstständig als Duo unterwegs, spielen regelmäßig auf Konzerten. Bei großen Auftritten bekommen sie Verstärkung von Produzent und Schlagzeuger Peter Voigtmann, Medizinstudent Julian Köttnitz und dem Psychiater Oliver Vogelbusch.
Tabuthemen aus dem Arztalltag vermitteln
Mit ihrer Musik, sagt Becker, wollen die Mediziner "kleine Geschichten erzählen". Am Anfang stehe dabei immer das Erlebte, oft eine Anekdote aus der Klinik. Die Lieder entstünden dann meist mit Abstand und seien auch nicht immer unbedingt an ein explizites Erlebnis gekoppelt.
Doch haben die Musiker denn ein bestimmtes Ziel, wenn sie auf der Bühne stehen? Immerhin ist der Klinik-Jazz nicht immer leichte Kost.
"Wir sind uns nicht sicher, ob Musik für den Zuhörer immer ein besonderes Ziel haben muss", sagt Becker nachdenklich, "bestenfalls sollte sie einfach nur gefallen. Aber wenn man davon sprechen will, dass es ein Ziel dieses Projektes gibt, dann ist das vielleicht, Tabuthemen in Tragik und Komik aufzubrechen - und dem Zuhörer auf diese Weise eine andere Sicht auf die Dinge zu geben."