Versorgung junger Flüchtlinge

"Wir sehen auch Kinder, die aufblühen"

Die wachsende Zahl minderjähriger Flüchtlinge stellt auch Kinder- und Jugendärzte vor Herausforderungen. Pädiaterin Dr. Ursula Kleine-Diepenbruck spricht im Interview mit der "Ärzte Zeitung" von körperlichem und seelischem Leid - und Momenten der Freude bei ihren kleinen Patienten.

Von Beate Schumacher Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Kleine-Diepenbruck, welche Basis-Untersuchungen sollten bei minderjährigen Flüchtlingen gemacht werden?

Dr. Ursula Kleine-Diepenbruck

'Wir sehen auch Kinder, die aufblühen'

© Jocelyne Fischer

Dr. Ursula Kleine-Diepenbruck: Das Gesundheitsamt ist verpflichtet, sich zu vergewissern, dass jeder, der in eine Gemeinschaftseinrichtung aufgenommen wird, zum Ausschluss von Tuberkulose untersucht wird. In Köln wird diese Untersuchung wegen der großen Zahl von Flüchtlingen teilweise delegiert und von pädiatrischen Praxen durchgeführt.

Außerdem werden alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen durch den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst untersucht und es erfolgt ein Gespräch mit einem Pädagogen des Kommunalen Integrationszentrums.

In der Praxis kann dann die hausärztliche Betreuung begonnen werden - in der Hoffnung, dass die Familie nicht kurzfristig wieder den Wohnort wechseln muss. Neben der ausführlichen Anamnese und gründlichen körperlichen Untersuchung werden die Wachstumsdaten und der Impfstatus erhoben.

Sinn macht es, die Befunde so zu dokumentieren, dass Eltern eine Kopie erhalten, damit der nächste Behandler nicht alles noch mal erfragen muss. Als weitere Basisuntersuchungen wären ein Urinstatus und die Bestimmung von Laborparametern wie Blutbild und Leberwerte hilfreich. Diese Untersuchungen sind bei fehlenden Krankheitszeichen bisher aber nicht durch das Asylbewerberleistungsgesetz gedeckt.

Sollte auf weitere Infektionen getestet werden?

Kleine-Diepenbruck: Es gibt eine Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin von 2013 über medizinische Maßnahmen bei immigrierenden Kindern und Jugendlichen. Hierin werden umfangreiche Untersuchungen vorgeschlagen.

Bei Kindern und Jugendlichen, die keine Krankheitszeichen und einen unauffälligen körperlichen Untersuchungsbefund aufweisen, können diese Untersuchungen aber bisher nicht über den Behandlungsschein abgerechnet werden.

Darüber hinaus ist es auch nicht möglich, bei fehlenden Deutschkenntnissen der Eltern über diese Untersuchungen nach den Vorgaben des Patientenrechtestärkungsgesetzes aufzuklären, zum Beispiel über die Untersuchung auf Lues oder HIV.

Wichtig ist, dass bei jeglichen Krankheitssymptomen je nach dem Erkrankungsspektrum des Herkunftslandes und des Weges, den der Flüchtling genommen hat, eine entsprechend umfangreiche Diagnostik veranlasst wird.

Der Impfstatus ist oft unbekannt. Wie soll man damit umgehen?

Kleine-Diepenbruck: Bei unbekanntem Impfstatus werden die Impfungen so angeboten, wie in der Empfehlung der Ständigen Impfkommision (STIKO) für Nachholimpfungen hinterlegt. Das wird in der Regel von den Eltern angenommen. Voruntersuchungen sind dafür nicht gefordert.

Bei Frauen und Mädchen ab zwölf Jahren, bei denen die Anamnese nicht sicher zu erheben ist, empfiehlt es sich allerdings, vor Lebendimpfungen eine Schwangerschaft auszuschließen.

Die Kinder und Jugendlichen haben durch die Zustände in ihrer Heimat und die Flucht meistens auch seelische Schäden erlitten. Sollten Kinder- und Jugendärzte danach fragen?

Kleine-Diepenbruck: Ja, aber sie sollten nicht mit der Tür ins Haus fallen. Manche Migranten sind erst mal froh, dass sie angekommen sind und möchten eine gewisse Normalität leben.

Wenn ich mich als Arzt frage, ob bestimmte Stimmungen und Symptome Ausdruck einer belastenden Vorgeschichte sein können, versuche ich entweder, Eltern oder Patient darauf anzusprechen, oder ich empfehle eine psychologische Diagnostik.

Auslösende Faktoren können nicht nur die Flucht und ihre Ursachen, sondern auch das Erleben hier von Schule, das Zusammenleben mit anderen Flüchtlingen und interkulturelle Konflikte sein.

Etwa jeder zehnte Patient hat eine deutliche emotionale Störung oder eine Entwicklungsstörung. Eine enge Vernetzung der Mediziner zum Beispiel mit den involvierten Pädagogen und Psychologen, aber auch den Sozialarbeitern ist hierbei notwendig. Wir sehen aber auch Kinder, die aufblühen, weil sie von Sorgen entlastet in gesicherten Verhältnissen leben und in die Schule gehen können.

Sie haben schon das Problem benannt, dass nicht alle medizinisch sinnvollen Leistungen erstattet werden. Worauf haben Asylbewerber einen Anspruch?

Kleine-Diepenbruck: Sie haben einen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und erhalten einen Krankenbehandlungsschein mit eingeschränktem Leistungsanspruch vom Sozialamt beziehungsweise der entsprechenden Kostenstelle der Kommune.

Nach Gewährung von Asyl oder nach 36 Monaten bei nicht abgeschlossenem Asylverfahren werden sie über die gesetzlichen Krankenkassen versichert.

Der Leistungsanspruch für Asylbewerber umfasst: notwendige und nicht aufschiebbare Behandlungen akuter Erkrankungen und Schmerzen, Mutterschaftsvorsorgeleistungen, die Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9, Schutzimpfungen und die Gesundheitsuntersuchung J1.

Es fehlt im Gesetz die Behandlung chronischer Erkrankungen. Diese muss beantragt werden, die Genehmigung hängt von der Kommune ab. Ebenso müssen geplante stationäre Behandlungen und Heilmittel gut begründet beantragt werden.

Problematisch ist, dass die Kommunen nach meinen Informationen je nach ihren finanziellen Möglichkeiten diese Leistungen unterschiedlich gewähren.

Sie haben eine Spezialsprechstunde für Flüchtlingskinder organisiert und Sie behandeln in Ihrer Praxis Flüchtlingskinder. Welche gesundheitlichen Probleme stehen hier im Vordergrund?

Kleine-Diepenbruck: In unserer Praxis unterscheidet sich das Krankheitsspektrum der Patienten mit und ohne Fluchterfahrung nicht wesentlich. Der häufigste Vorstellungsanlass sind Infekte. Hämatologische Erkrankungen wie zum Beispiel Thalassämie sind eher selten. Tropenkrankheiten haben wir bisher nicht diagnostiziert. Einmal haben wir bei einem Mädchen aus dem Kongo eine HIV-Infektion festgestellt.

Häufiger als in der deutschen Klientel sehen wir emotionale Belastungen und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Die traumatischen Erlebnisse der Kinder oder Eltern und die Schwierigkeiten, die sie auf dem Weg hierher bewältigen mussten, belasten die Familie, besonders die Kinder.

Auch die hiesigen Lebensumstände schränken die Kinder in ihrer gesundheitlichen Entwicklung ein. Relativ häufig erhalten die Kinder eine unpassende Beschulung: Wenn sie beispielsweise mit fünf bis sechs Jahren nach Deutschland kommen, müssen sie ohne Kindergartenbesuch und ohne Sprachkenntnisse in die erste Klasse der Regelschule.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen bei der ärztlichen Betreuung von Flüchtlingskindern?

Kleine-Diepenbruck: Zunächst müssen die Kinder und Jugendlichen überhaupt den Weg in die Praxis finden. Etwa 80-90 Prozent der Kinder sind äußerlich gesund, und die Eltern kommen gar nicht auf die Idee, mit ihnen zu einem Arzt zu gehen.

Das liegt auch daran, dass viele Flüchtlinge Angst haben, sich nicht willkommen fühlen und dass sie es nicht gewohnt sind, niederschwelligen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Über diesen Anspruch sollten Eltern gleich zu Anfang aufgeklärt werden.

Meistens fehlt es auch an einer gemeinsamen Sprache und an Dolmetschern. Der Einsatz von Dolmetschern ist zudem haftungsrechtlich nicht gut geregelt. Beim Robert Koch-Institut gibt es fremdsprachige Aufklärungsmaterialien zum Thema Impfen. Solche Materialien benötigen wir auch für andere Themen.

Kulturell bedingte Differenzen sind ebenfalls eine Herausforderung, etwa unterschiedliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit oder auch von Pünktlichkeit. Alle in der Praxis sollten bereit sein, diese Differenzen mit Geduld und Flexibilität zu kompensieren.

Die in ihren prekären Lebensumständen kämpfenden Familien benötigen außerdem erheblich mehr Unterstützung und Beratung im Umgang mit Krankheit und Handicap, aber auch etwa im Umgang mit Krankenkassen, Behörden. Das alles ist sehr aufwändig und organisatorisch anspruchsvoll.

Kinder und Jugendliche haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit. Ist das Ihren Erfahrungen nach derzeit gewährleistet?

Kleine-Diepenbruck: Nein. Dafür müssten Kinder von Flüchtlingen und unerlaubt eingereisten Migranten nicht zuletzt durch unser Engagement die gleichen Chancen auf Bildung und Gesundheitsversorgung und wirtschaftliche Sicherheit haben, wie hier aufwachsende Kinder - das ist nicht der Fall.

Was muss sich ändern?

Kleine-Diepenbruck: Die Versorgung der Patienten muss bei akuten und bei chronischen Erkrankungen und in allen Kommunen nach dem Regelleistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen erfolgen. Das wäre auch für die Praxen eine extreme Erleichterung. Etwa in Bremen und Hamburg funktioniert das in Kooperation mit der AOK über eine Krankenversicherungskarte, und die Kommunen sparen sogar dabei.

Flüchtlinge - Kinder und Eltern - müssen außerdem frühzeitig angemessenen Wohnraum und intensiven Deutschunterricht erhalten. Für Kontakte im Gesundheitswesen brauchen wir eine niederschwellige Sprachmittlung und fremdsprachige Informationsmaterialien.

Eine Dokumentation aller gesundheitsrelevanten Kontakte der Kinder- und Jugendlichen von der Tuberkulose-Erstuntersuchung bis zu Impfungen, Einschulungsuntersuchungen und Behandlung von akuten Erkrankungen in einem Heft wäre wegen der häufigen Ortswechsel für die Familien, aber auch für jeden Arzt und jede Institution eine große Hilfe.

Und wir benötigen eine Willkommenskultur in Praxen und Kliniken - das kostet nichts und ist eine Frage der Einstellung!

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