"Ärzte arbeiten zu wenig"

BERLIN (af). Jürgen Graalmann, der designierte Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, hat in ein Wespennest gestoßen: Er wirft vor allem Fachärzten vor, 23 Prozent weniger zu arbeiten, als vertraglich vereinbart. KBV-Chef Dr. Andreas Köhler forderte prompt eine Entschuldigung.

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Hausarztpraxen bringen rund 47 Stunden für die Versicherten auf, Facharztpraxen nur 39 Stunden, hat das Marktforschungsinstitut Psychonomics bei einer Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes ermittelt.

Das sei weniger als zwischen Kassen und KBV vereinbart, so Graalmann vor Journalisten. Mehr als die Hälfte der Fachärzte verschiebe aus Budgetgründen Termine ins Folgequartal.

Kalkulatorische Grundlage für die Ärztevergütung seien 51 Wochenarbeitsstunden. Gemessen an der tatsächlichen Arbeitszeit erhielten die Vertragsärzte vier Milliarden Euro zu viel.

Graalmanns Fazit: "Längere Wartezeiten ergeben sich aus Sprechzeitenverkürzung bei steigender Vergütung." Befragt hatten die Marktforscher 150 Allgemein- und 172 Fachärzte aus allen Fachrichtungen und Regionen.

Die KBV hat die Vorwürfe umgehend zurückgewiesen. "Seit Jahren erbringen die rund 137.000 Ärzte mehr Leistungen, als sie bezahlt bekommen. Jetzt zu behaupten, Ärzte arbeiteten zu wenig, ist eine Unverschämtheit", sagte KBV-Chef Köhler.

Vertragsärzte seien nur verpflichtet, mindestens 20 Sprechstunden in der Woche anzubieten. "Dies sieht ein Vertrag vor, den auch die Kassen unterschrieben haben." Dies müsse Graalmann richtig stellen und sich entschuldigen.

BÄK-Präsident Montgomery sprach von einer "billigen Polemik". Wenn Patienten auf Termine warten müssten, liege dies an Überlastung der Ärzte.

Lesen Sie dazu auch: Faule Ärzte? Die AOK-Umfrage sagt was anderes

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Kommentare
Uwe Schneider 05.09.201108:26 Uhr

Ja, aber ...

Gerade bei den Fachärzten und in den Bundesländern, die von der letzten Honorarreform nicht gerade verwöhnt wurden, ist m.E. schon eine Tendenz zur Arbeitszeitverkürzung im GKV-Bereich und zur verbreiteten Praxisschließung am Quartalsende zu verspüren, welche auch die mögliche Unterschreitung der 51-Stunden-Grenze erklären könnte und in der Tat die Wartezeiten hochtreibt. Vielleicht sollte die Ärzteschaft daher eher mit einem "Ja, aber ..." auf Herrn Graalmann antworten als mit einem "Nein, das ist Quatsch".

Dr. Jürgen Schmidt 03.09.201115:26 Uhr

Begründungszwänge akzeptieren

In einem Verteilungsstaat muss man Begründungszwänge akzeptieren!

Dies war auch das Motiv der KBV über viele Jahre eine betriebswirtschaftlich kalkulierte Honorierung ärztlicher Leistungen zu fordern, um mit dem EBM 95 und den Vertragspartnern den Versuch der Umsetzung vorzunehmen.
Grundlage waren ein Gutachten zur Kostenstruktur der Praxen und einzelner Leistungen, ein kalkulierter Reingewinn, der einem Oberarztgehalt (unter Korrektur jener Beiträge die der Arbeitgeber leistet, hingegen der niedergelassene Arzt aus eigener Tasche zahlen muss) entsprechen sollte, - damit war die Arbeitszeit implementiert (!) -sowie die Forderung der KBV-VV, dass die Reingewinne aller Fachgruppen gleich sein sollten.

Unabhängig davon, dass die Umsetzung aus verschiedenen Gründen misslungen war und mehrfach erfolglos nachgebessert werden musste, blieben diese Prämissen Grundgedanken berufspolitischer Argumentation.

Seitdem haben sich die Arbeitszeiten im Krankenhaus geändert und der ursprünglich anvisierte Punktwert erwies sich bei gedeckelter Gesamtvergütung als nicht realisierbar, die Kostenstrukturen haben sich geändert und vieles mehr.
Im Ergebnis dürfte die Ärzteschaft jedoch gute Karten haben, die vom AOK-Chef aufgeworfenen Begründungszwänge aufzunehmen und zu beantworten.

Ob man dem Herrn zuvor die Zähne zeigen sollte, oder rein sachlich repliziert, misst man am besten an der Überlegung, ob man in der Berufspolitik über jedes vorgehaltene Stöckchen springen und weitere Konflikte schüren will, oder ein Auskommen mit den Partnern in der Selbstverwaltung suchen möchte.
Schärfere Töne, wie von einer lautstarken Minderheit in der Ärzteschaft – auch gelegentlich in den Kommentarspalten der ÄZ - gefordert, sind keine Maxime erfolgreicher Berufspolitik.

Dr. Stefan Monkowski 03.09.201112:38 Uhr

Wilder AOK-Bürohengst

... 25° C, strahlend blauer Himmel, da hält mir am Ende meiner Samstagssprechtstunde ein Patient grinsend unsere Lokalzeitung vor, auf derem Titelblatt prangt, dass mal wieder so ein AOK-Fuzzi der Meinung ist, ich würde für das großzügige Honorar zu wenig für seinen Verein arbeiten...Und das fünf Stunden, bevor ich mich, wie so oft wochenends, auf den Weg zur Rettungs-Wache mache, um einen 24 Stunden-Dienst als NEF-Doktor zu absolvieren. Nach einem kurzen Sonntagabend im Familienkreis, werde ich montags wieder voll in unserer hausärztlich-internistischen Gemeinschaftspraxis durchstarten...
Wie verdient denn eigentlich so ein wilder AOK-Büro-Hengst sein überbordendes Vorstandsgehalt am Wochenende ?
Ist diesem Schmock eigentlich bewusst, dass zig tausende "seiner" Vertragsärzte durch zusätzliche Nacht-/ und Wochenenddienste in Notdienstzentralen und Notarzt-Stützpunkten dieses marode Kassensystem am Leben erhalten, und für Versichertenpauschalen,für die kein Fitness-Studiobetreiber Mitglieder akzeptieren würde,Tag für Tag hochqualifizierte Arbeit abliefern ? Weiss er eigentlich, dass er nur durch uns seine berufliche Daseinsberechtigung hat ? In manchem Hühnerzüchterverein wurden schon weit wichtigere Vorstandsvorsitzende nach solchen verbalen Geisterfahrten abserviert...

Dr. Thomas Georg Schätzler 02.09.201123:14 Uhr

GKV - "Beschützende Werkstatt" 1.0?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Vertragspartner in der GKV wenn nicht mit akuter Dekompensation einen Psychiater, so doch mindestens einen Psychotherapeuten, einen Mediator oder wenigstens einen Moderator benötigen.

Wenn Jürgen Graalmann, als zukünftiger Vorsitzender des AOK-Bundesverbandes gehandelt, sich an vertragliche Vereinbarungen mit den KVen und der KBV über 20 Sprechstunden in der Woche nicht erinnern möchte, ist das schon verhaltensauffällig. Wie er sich dabei auf das von "seiner" AOK bei der Kölner "YouGovPsychonomics AG" (internationale Marktforschung, Organisationsforschung und Beratung) bestellte Gutachten beruft, wirkt schon als illusionäre Verkennung. "YouGovPsychonomics", allein der Name spricht für Hypertrophie, hatte doch nur nach den "gefühlten" Wochenarbeitszeitbelastungen bei Haus- und Fachärzten gefragt und daraus keinesfalls valide Schlussfolgerungen ziehen können.

Herr G. von der AOK behauptet nun ins Blaue hinein, "kalkulatorische Grundlage für die Ärztevergütung seien 51 Wochenarbeitsstunden". Das kann er ja seinen Mitarbeitern/-innen zur Nachahmung empfehlen, aber es spricht nicht für Sach- und Menschenkenntnis. Ins Schwarze behaupten u n d treffen würde allerdings, dass der seit DM-Euro-Umstellung gültige kalkulatorische Punktwert mit früheren 10 Pfennigen 5,1 Cent entspricht und nicht aktuell 3 bis 3,5 Cent je nach GKV-Kasse und Leistungsbereich.

O-Ton Jürgen Graalmann: "Längere Wartezeiten ergeben sich aus Sprechzeitenverkürzung bei steigender Vergütung" und keinesfalls aus vermehrtem Patientenansturm, demografischen Effekten und Erwartungshaltungen, befeuert durch irreführende AOK-Infos, ist schon schlimm genug. Aber bei seiner Meinung, "gemessen an der tatsächlichen Arbeitszeit erhielten die Vertragsärzte vier Milliarden Euro zu viel", würde ich ganz dringend zu einem professionellen Coaching raten. Am besten beginnend mit "Selbsterfahrung auf dem Hüpfball"!

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM (z. Zt. Bergen aan Zee NL)


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