Milder Pandemie-Verlauf
Ambulante Versorgung mindert COVID-19-Risiken
Ein Blick auf die erste Welle der COVID-19-Pandemie zeigt: Deutschlands ambulanter Ansatz hilft, die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus einzudämmen. Das ist Tenor bei der KBV-Veranstaltung „healsy20; Starke Gesundheitssysteme“.
Veröffentlicht:Berlin. Die Präsenz der ambulanten Versorgung in der Gesundheitsversorgung hat den Ausschlag gegeben, dass Deutschland im internationalen Vergleich bislang gut durch die Pandemie kommt. Diese Aussage war Tenor beim Web-Kongress „Starke Gesundheitssysteme 2020“ (healsy20), einer von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ausgerichteten Veranstaltung im Rahmen der laufenden EU-Ratspräsidentschaft.
Derzeit würden 19 von 20 COVID-19-Patienten von den niedergelassenen Ärzten und ihren Mitarbeitern behandelt. Zwischen Februar und Mai waren vier von fünf COVID-Patienten nicht im Krankenhaus, berichtete der Gesundheitssystemforscher Professor Reinhard Busse von der TU Berlin.
Eine Lektion aus dem bisherigen Verlauf der Pandemie sei, COVID-Patienten aus den Krankenhäusern herauszuhalten. Dort, wo schon das Testen in die Kliniken verlagert gewesen sei, habe das Virus sich stärker ausbreiten können, sagte Busse. „Krankenhäuser sind gefährliche Orte“, sagte der Wissenschaftler mit Blick auf Corona.
Dass das im Zusammenhang mit COVID-19 auch für Deutschland gilt, machte der Wissenschaftler am Beispiel des ErnstBergmann-Klinikums in Potsdam fest. Dort seien 47 Menschen an oder mit dem Corona-Virus gestorben. 44 von ihnen hätten sich erst vor Ort mit COVID-19 infiziert.
Staat will Impfstoffkosten tragen
„Alle um uns herum haben höhere Infektionszahlen bezogen auf die Bevölkerung als wir“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstag in Berlin. Die Gründe für den glimpflichen Verlauf der Pandemie sieht Spahn in der Ausdifferenzierung des Gesundheitssystems.
In den Laboren leisteten die MTA seit Februar durchgehend Überstunden. Zudem gebe es in Deutschland mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zusätzlich eine starke Struktur zum Beispiel zur Kontaktverfolgung infektiöser Menschen.„In anderen Ländern wurden die Krankenhäuser überrannt“, sagte Spahn.
Das habe zur Folge gehabt, dass die Kliniken zu Orten geworden seien, wo das Infektionsgeschehen am höchsten war.Die Resilienz des Gesundheitssystems lasse sich gleichwohl weiter stärken, befand Spahn. Der Aufbau digitaler Meldewege zwischen den Gesundheitsämtern und dem Robert-Koch-Institut solle daher zügig vorangetrieben werden. „Wir werden in drei Monaten mehr Digitalisierung im ÖGD schaffen als in den vergangenen 20 Jahren“, sagte der Minister.
Spahn kündigte an, dass COVID-Impfstoffe komplett aus dem Staatshaushalt bezahlt würden. Ab November werde die EU-Kommission ihre Arzneimittel-Strategie überarbeiten. Es gelte, weniger abhängig von China zu werden. Es dürfe sich nicht in China entscheiden, wie Europa mit Schutzausrüstung oder Grundstoffen zur Produktion von Arzneimitteln ausgestattet sei.
Übersterblichkeit bei null
Die Übersterblichkeit sei vermutlich der ultimative Gradmesser für die Resilienz der Gesundheitssysteme in Corona-Zeiten, berichtete Reinhard Busse. Mit 50000 Toten und damit 26 Prozent mehr zwischen Februar und Mai als in Vergleichszeiträumen habe es Spanien relativ am heftigsten getroffen. Großbritannien verzeichne 62000 Tote (24 Prozent) mehr, Italien 44000 (22 Prozent).
Unter dem Begriff Übersterblichkeit würden die an COVID-19 und die aufgrund mangelnder Versorgung infolge der Pandemie Verstorbenen gezählt, sagte Busse. In Deutschland, Norwegen, Dänemark, Finnland oder der Schweiz liege die Übersterblichkeit bei Null oder nahe dran.
„Ambulante Behandlung am Krankenhaus ist ein Irrweg“, griff KBV-Chef Dr. Andreas Gassen die Argumentation Busses auf. Ein Vorteil Deutschlands sei auch, dass hierzulande „großzügig“ getestet würde. Die Zahl der Tests pro Woche habe sich von 400000 im Februar auf 1,2 Millionen in der vergangenen Woche entwickelt. Die Dunkelziffer dürfte mithin eher niedrig anzusetzen sein.
Dass die Politik Anreize gesetzt habe, elektive Operationen zu verschieben sei zwar im Nachhinein betrachtet nicht notwendig gewesen, habe aber den positiven Effekt gehabt, dass die Menschen den Krankenhäusern ferngeblieben seien, sagte GKV-Verbandschefin Dr. Doris Pfeiffer.
Die Solidarität der Staaten untereinander habe funktioniert, sagte Dr. Hans Kluge, der aus Kopenhagen zugeschaltete WHO-Regionaldirektor für Europa. Die Länder könnten sich gegenseitig dadurch helfen, indem sie die eigenen Systeme kritisch unter die Lupe nähmen. Wichtig sei, damit die Politiker aus den Dilemmata zu befreien, Entscheidungen über Leben und Tod treffen zu müssen.